Weiter weg
behauptet, sich nicht bloß schmeicheln will. Was genau könnte er meinen? Wahrscheinlich meint er, dass eine Figur, ist sie erst einmal so weit ausgearbeitet, ein kohärentes Ganzes zu bilden, eine Art Unausweichlichkeit in Gang setzt. Er meint, konkret, dass oftmals die Geschichte, die er einer Figur ursprünglich zugedacht hat, sich aus den Charakterzügen, die er für sie zu zeichnen in der Lage war, einfach nicht ergibt. Theoretisch kann ich mir einen Charakter, den ich zum Mörder seiner Freundin machen will, vorstellen, muss dann aber möglicherweise, beim eigentlichen Schreiben, feststellen, dass eben der Charakter, den ich auf dem Papier zum Funktionieren bringen kann, zu viel Empathie oder Reflexionsvermögen hat, um zum Mörder zu werden. Der entscheidende Ausdruck in diesem Zusammenhang ist «auf dem Papier funktionieren». Man kann sich theoretisch alles Beliebige vorstellen und vornehmen. Aber ein Schriftsteller ist immer eingeschränkt durch das, was er oder sie wirklich «zum Funktionieren bringen» kann: sodass es plausibel, lesenswert, sympathisch, unterhaltsam, schlüssig und, mehr als alles andere, unverwechselbar und originell ist. Flannery O’Connor meinte, ein Schriftsteller tut alles, was geht und womit er ungeschoren davonkommt – «und das ist noch für keinen viel gewesen». Hat man erst einmal die bloße Planung des Buchs hinter sich gelassen und mit dem eigentlichen Schreiben begonnen, schrumpft das Universum denkbarer menschlicher Typen und Verhaltensweisen radikal zusammen auf den Mikrokosmos jener menschlichen Möglichkeiten, die man selber in sich trägt. Eine Figur stirbt auf dem Papier, wenn man ihre Stimme nicht hört. Das läuft, schätze ich, in sehr eingeschränktem Sinn hinaus auf «die Figur übernimmt», oder «sie sagt dir, was sie tun wird und was nicht». Doch wenn eine Figur etwas nicht tun kann , dann, weil man selbst nicht dazu in der Lage ist. Die Aufgabe besteht eben darin, herauszufinden, was die Figur kann – die Erzählung so weit wie möglich zu treiben und auch sicher keine der aufregenden Möglichkeiten, die in einem selber stecken, zu übersehen, während man die Erzählung immer weiter in Richtung eines Sinns dehnt.
Was mich zur immer wiederkehrenden Frage Nr. 4 bringt: Ist Ihre Literatur autobiographisch?
Jeder Romanschriftsteller, der diese Frage aufrichtig mit nein beantworten würde, ist mir suspekt, und doch bin ich, wenn man sie mir stellt, selbst in großer Versuchung, nein zu sagen. Von den vier wiederkehrenden Fragen wirkt diese auf mich am feindseligsten. Vielleicht ist diese Feindseligkeit eine bloße Projektion von mir, aber ich habe das Gefühl, meine Vorstellungskraft würde in Frage gestellt. So wie: «Handelt es sich wirklich um Literatur oder nur um einen oberflächlich getarnten Erfahrungsbericht? Und weil einem im Leben ja nur so und so viel passieren kann, haben Sie Ihr autobiographisches Material bestimmt bald aufgebraucht – falls Sie es in Wahrheit nicht längst aufgebraucht haben! –, und deshalb schreiben Sie auch keine guten Bücher mehr, stimmt’s? Überhaupt, wenn Ihre Bücher bloß oberflächlich getarnte Autobiographie sind, vielleicht waren Sie dann gar nicht so interessant, wie wir gedacht haben? Denn was macht Ihr Leben letztlich so schrecklich viel interessanter als das irgendeines anderen? Ihr Leben ist nicht so interessant wie das von Barack Obama, oder? Und außerdem, wenn Ihr Werk autobiographisch ist, warum waren Sie dann nicht gleich so ehrlich und haben einen sachlichen Lebensbericht geschrieben? Warum es in Lügen kleiden? Was sind Sie für ein schlechter Mensch, dass Sie uns Lügengeschichten erzählen, um Ihr Leben interessanter und aufregender aussehen zu lassen?» Ich höre all diese anderen Fragen in der einen Frage, und binnen kürzester Zeit wirkt das bloße Wort autobiographisch beschämend auf mich.
Ich selbst verstehe unter einem autobiographischen Roman strikt einen, in dem die Hauptfigur dem Autor stark ähnelt und die beschriebenen Geschehnisse denen des Autors im wirklichen Leben gleichen. Mein Eindruck ist, dass In einem andern Land , Im Westen nichts Neues , Villette , Die Abenteuer des Augie March und Der Mann, der seine Kinder liebte – allesamt Meisterwerke – in dieser Hinsicht substanziell autobiographisch sind. Die meisten Romane jedoch sind es, interessanterweise, nicht. Meine eigenen Romane sind es nicht. In dreißig Jahren habe ich vermutlich nicht mehr als zwanzig oder dreißig
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