Weiter weg
alle Briefe in einer Truhe auf dem Dachboden meines Bruders. Viel später, als ich sie wieder hervorholte und es schaffte, sie ganz durchzulesen, entdeckte ich, dass mein Vater ihr tatsächlich Dutzende Male seine Liebe erklärt hatte, und zwar mit den drei großen Worten, bevor und nachdem er meine Mutter geheiratet hatte. Aber vielleicht war er dennoch, sogar damals, außerstande gewesen, die Worte auszusprechen, und vielleicht hatte er sie deshalb in der Erinnerung meiner Mutter nie «gesagt». Möglich auch, dass seine schriftlichen Erklärungen schon in den vierziger Jahren so merkwürdig und für ihn untypisch geklungen hatten wie für mich heute und dass meine Mutter sich in ihren Klagen an eine tiefere Wahrheit erinnerte, die nun von seinen scheinbar liebevollen Worten überdeckt war. Möglich, dass er sich in schuldiger Reaktion auf den Gefühlssturm, der ihn aus ihren Briefen anwehte («Ich liebe Dich aus ganzem Herzen», «Mit ach so viel Liebe» usw.), verpflichtet fühlte, seinerseits romantische Liebe sichtbar werden zu lassen oder es zumindest zu versuchen, so wie er (irgendwie) versucht hatte, in Fairview, Montana, eine Valentinskarte zu kaufen.
Both Sides Now , in der Version von Judy Collins, war der erste Popsong, der sich in meinem Kopf festsetzte. Als ich acht oder neun war, lief er ständig im Radio, und sein Verweis darauf, die Liebe «right out loud» zu erklären, trug in Verbindung damit, dass ich mich in Judy Collins’ Stimme verknallt hatte, dazu bei, dass die primäre Bedeutung von «Ich liebe dich» für mich eine sexuelle war. Dann durchlebte ich die siebziger Jahre und war in seltenen Gefühlsanfällen imstande, meinen Brüdern und vielen meiner besten Freunde zu sagen, dass ich sie liebte. Doch die ganze Grundschule und Junior High hindurch hatten diese Worte für mich nur eine Bedeutung. «Ich liebe dich» war der Satz, den ich vom süßesten Mädchen in der Klasse auf einen Zettel geschrieben sehen oder im Wald bei einem Schulpicknick geflüstert hören wollte. Es geschah in diesen Jahren nur zweimal, dass mir ein Mädchen, das ich mochte, das sagte oder schrieb. Aber wenn es geschah, war es wie ein Adrenalinstoß. Noch als ich aufs College ging und Wallace Stevens las, der sich, in «Le Monocle de Mon Oncle», über wahllos Liebesuchende wie mich lustig machte –
Wär Sex denn alles, wir quiekten von jeder
zitternden Hand, wie Puppen, die ersehnten Worte –
signalisierten mir diese ersehnten Worte weiterhin das Aufgehen eines Mundes, die Hingabe eines Körpers, die Verheißung berauschender Intimität. Und so war es höchst peinlich, dass derjenige Mensch, von dem ich diese Worte ständig hörte, meine Mutter war. Sie war die einzige Frau in einem Männerhaushalt, und sie lebte mit einem solchen Übermaß an nicht erwiderbaren Gefühlen, dass sie eben zu romantischen Ausdrücken dafür griff. Die Karten und Koseworte, mit denen sie mich bedachte, waren im Geist identisch mit denen, die sie einst meinem Vater hatte zukommen lassen. Lange vor meiner Geburt schon hatte mein Vater ihre Ergüsse als unerträglich kindisch empfunden. Für mich dagegen waren sie nicht annähernd kindisch genug. Ich betrieb einen ungeheuren Aufwand, ihre Erwiderung zu vermeiden. Viele Abschnitte meiner Kindheit, die langen Wochen, in denen wir beide allein zu Hause waren, überstand ich, indem ich mich an wesentliche Unterschiede in der Intensität zwischen den Wendungen «Ich liebe dich», «Ich liebe dich auch» und «Lieb dich» klammerte. Das wirklich Entscheidende für mich war, niemals «Ich liebe dich» oder «Ich liebe dich, Mom» zu sagen. Die am wenigsten schmerzhafte Alternative war ein gemurmeltes, praktisch unhörbares «Lieb dich». «Ich liebe dich auch» dagegen, wenn rasch gesprochen und mit hinreichender Betonung auf dem «auch», was eine Routinereaktion implizierte, half mir über so manchen peinlichen Moment hinweg. Ich erinnere mich nicht, dass sie mich wegen meines Gemurmels je zur Rede gestellt oder mir das Leben schwer gemacht hätte, wenn ich (was zuweilen vorkam) als Antwort wenig mehr als ein ausweichendes Grunzen aufbieten konnte. Aber sie erklärte mir auch nie, dass sie einfach gern «Ich liebe dich» sagte, weil ihr Herz von Gefühlen überfloss, und ich nicht meinen solle, ich müsse darauf jedes Mal mit einem «Ich liebe dich» antworten. Und so höre ich bis zum heutigen Tag immer, wenn ich von einem ins Handy geschrienen «Ich liebe dich» überfallen werde,
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