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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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einmal bewusst –, nicht der marathonartigen Techno-Umarmung, die sich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten als Reaktion auf das Trauma entwickelte, Fernsehbildern ausgesetzt zu sein.
    Was ich hingegen sah, war die plötzliche, mysteriöse, katastrophale Sentimentalisierung des öffentlichen Diskurses in Amerika. Und genauso, wie ich die Schuld dafür, dass Leute elterliche oder kindliche Zuneigung in ihr Telefon gießen und jeden Fremden in Hörweite mit Grobheiten überschütten, nun mal der Mobilfunktechnik gebe, gebe ich die Schuld an der nationalen Betonung des Persönlichen nun mal der Medientechnologie. Anders als etwa 1941, als die Vereinigten Staaten auf einen furchtbaren Angriff mit kollektiver Entschlossenheit, Disziplin und Opferbereitschaft antworteten, hatten wir 2001 fürchterliche Bilder. Wir hatten Amateuraufnahmen und konnten sie Bild für Bild analysieren. Wir hatten Bildschirme, auf denen die Gewalt in ihrer ganzen Brutalität in jedes Schlafzimmer im Land gebracht wurde, die Mailbox, die verzweifelte letzte Anrufe der Todgeweihten aufzeichnete, und wir hatten die neueste Psychologie, die unser Trauma erklärte und heilte. Darüber aber, was die Angriffe tatsächlich bedeuteten und wie eine vernünftige Reaktion darauf aussehen könnte, gab es unterschiedliche Ansichten. Das war das Wunderbare an der digitalen Technologie: Jetzt fand keine verletzende Zensur von Gefühlen mehr statt! Jeder hatte das Recht, seine oder ihre Meinung zu sagen! Ob Saddam Hussein den Entführern persönlich die Flugtickets gekauft hatte oder nicht, blieb daher Gegenstand lebhafter Debatten. Stattdessen waren sich alle darin einig, dass die Familien der Opfer vom 11. September das Recht hatten, Pläne für das Denkmal an Ground Zero zu befürworten oder abzulehnen. Und alle konnten den Schmerz der Familien der gefallenen Cops und Feuerwehrleute teilen. Und alle waren sich darin einig, dass die Ironie erledigt war. Die faule, leere Ironie der neunziger Jahre war nach 9/11 schlicht «nicht mehr möglich»; wir waren in ein neues Zeitalter der Aufrichtigkeit eingetreten.
    Gut war, dass die Amerikaner 2001 zu ihren Kindern um einiges besser «Ich liebe dich» sagen konnten als ihre Väter oder Großväter früher. Aber wirtschaftlich mithalten? Sich als Nation zusammenreißen? Unsere Feinde schlagen? Starke internationale Bündnisse schließen? Daran fehlte es vielleicht doch ein wenig.

    Meine Eltern lernten sich zwei Jahre nach Pearl Harbor kennen, im Herbst 1943, und binnen weniger Monate schickten sie einander Karten und Briefe. Mein Vater arbeitete bei der Great Northern Railway und war oft in Kleinstädten unterwegs, inspizierte oder reparierte Brücken, während meine Mutter in Minneapolis blieb und als Empfangsdame arbeitete. Der älteste seiner in meinem Besitz befindlichen Briefe an sie ist vom Valentinstag 1944. Er war gerade in Fairview, Montana, und meine Mutter hatte ihm eine Valentinskarte geschrieben, die im Stil aller ihrer Karten aus dem Jahr, das ihrer Hochzeit voranging, gehalten war: niedliche gemalte Babys, Kleinkinder oder Tierbabys, die niedliche Empfindungen ausdrückten. Vorn auf der Valentinskarte (die mein Vater ebenfalls aufbewahrte) sind ein kleines Mädchen mit Zöpfen und ein errötender kleiner Junge zu sehen, sie stehen nebeneinander, die Blicke züchtig abgewandt, die Hände verschämt auf dem Rücken.
    I wish I were a little rock,
    ’Cause then when I grew older,
    Maybe I would find some day
    I was a little «boulder».
    Auf der Innenseite der Karte ist eine Zeichnung derselben Kinder, nun aber halten sie Händchen, und zu Füßen des Mädchens findet sich in Schreibschrift der Namenszug («Irene») meiner Mutter. Eine zweite Strophe lautet:
    And that would really help a lot
    It sure would suit me fine,
    For I’d be «bould» enough to say,
    «Please be my Valentine».
    Der Antwortbrief meines Vaters trägt den Poststempel Fairview, Montana, 14. Februar.
    Dienstagabend
    Liebe Irene,
    es tut mir leid, Dich am Valentinstag enttäuscht zu haben; ich habe noch daran gedacht, aber als ich dann im Drugstore keine fand, kam ich mir ein bisschen blöd vor, beim Kaufmann oder im Eisenwarenladen nachzufragen. Bestimmt haben sie auch hier schon vom Valentinstag gehört. Deine Karte hat perfekt zu der Situation hier gepasst, und ich weiß nicht, ob das Absicht oder Zufall war, aber ich glaube doch, dass ich Dir von unseren Schwierigkeiten mit den Steinen berichtet habe. Heute sind uns die

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