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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Steine ausgegangen, daher wünsche ich mir kleine Steine, große Steine, Steine jeder Art, denn solange wir keine haben, können wir hier nichts tun. Ich kann hier ziemlich wenig machen, wenn die Baufirma arbeitet, und jetzt gar nichts. Heute bin ich zu der Brücke gelaufen, an der wir arbeiten, nur um die Zeit totzuschlagen und ein wenig Bewegung zu haben; sie ist ungefähr sechs Kilometer entfernt, was bei dem beißenden Wind ziemlich weit ist. Wenn wir morgen früh keine Steine geliefert bekommen, werde ich hier sitzen und was Philosophisches lesen; ich finde es nicht eben richtig, dass ich für einen solchen Tag auch noch bezahlt werde. Ungefähr die einzige andere Abwechslung hier besteht darin, in der Hotelhalle zu sitzen und den Stadttratsch mitzukriegen, und die alten Leute, die hierherkommen, haben einiges davon auf Lager. Du hättest Deine helle Freude daran, weil es hier so einen breiten Querschnitt des Lebens gibt – vom Landarzt bis zum Stadtsäufer. Und Letzterer ist wahrscheinlich am interessantesten. Wie ich gehört habe, hat er einmal an der Universität von N. D. unterrichtet, und er scheint wirklich ein ganz intelligenter Mensch zu sein, selbst wenn er betrunken ist. Normalerweise ist das Gerede hier ziemlich grob, ungefähr so, wie Steinbeck es als Vorlage genommen haben muss, aber heute Abend kam eine riesengroße Frau herein, die sich gleich häuslich einrichtete. Davon wird mir irgendwie klar, was für ein behütetes Leben wir Städter führen. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und fühle mich hier wie zu Hause, aber irgendwie sehe ich die Dinge jetzt anders. Du wirst noch mehr davon hören.
    Ich hoffe, Samstagabend wieder in St. Paul zu sein, kann es jetzt aber noch nicht mit Sicherheit sagen. Wenn ich da bin, rufe ich Dich an.
    In Liebe,
    Dein Earl
    Kurz davor war mein Vater neunundzwanzig geworden. Schwer zu sagen, wie meine Mutter in ihrer Unschuld und ihrem Optimismus den Brief damals aufnahm, aber ganz allgemein und mit Blick auf die Frau, die ich nach und nach kennenlernen sollte, kann ich sagen, dass es in keiner Weise der Brief war, den sie von ihrem Liebsten haben wollte. Dass das niedliche Wortspiel in ihrem Valentine-Gedicht wortwörtlich als Bezug auf Schotter verstanden wurde? Und sie, der es ihr ganzes Leben lang vor der Hotelbar graute, in der ihr Vater als Barmann gearbeitet hatte, sie sollte ihre helle Freude daran haben, vom Stadtsäufer «grobes Gerede» zu hören? Wo waren die Koseworte? Wo die träumerischen Liebesgespräche? Es war klar, dass mein Vater noch eine Menge über sie lernen musste.
    Für mich dagegen steckt sein Brief voller Liebe. Voller Liebe zu meiner Mutter jedenfalls: Er hat versucht, eine Valentinskarte für sie zu besorgen, er hat ihre Karte sorgfältig gelesen, er hätte sie gern bei sich, er hat Ideen, die er ihr mitteilen möchte, er schreibt ihr, dass er sie liebt, er wird sie anrufen, sobald er da ist. Voller Liebe aber auch zur weiteren Welt: zu den vielfältigen Menschen darin, zu kleinen und großen Städten, zu Philosophie und Literatur, zu harter Arbeit und fairem Lohn, zu Gesprächen, zum Denken, zu langen Märschen im beißenden Wind, zu sorgfältig gewählten Worten und perfekter Rechtschreibung. Der Brief erinnert mich an die vielen Dinge, die ich an meinem Vater liebte, seinen Anstand, seine Intelligenz, seinen unerwarteten Humor, seine Neugier, seine Gewissenhaftigkeit, seine Zurückhaltung und Würde. Nur wenn ich den Brief neben die Valentinskarte meiner Mutter mit ihren großäugigen Babys und der puren Sentimentalität halte, schwenkt mein Blick auf die Jahrzehnte gegenseitiger Enttäuschung, die auf die ersten Jahre folgten, Jahre halbwegs ungetrübten Glücks.
    Später beklagte sich meine Mutter bei mir, mein Vater habe ihr nie gesagt, dass er sie liebe. Und im wörtlichen Sinn mag es auch sein, dass er ihr die drei großen Worte nie gesagt hat – ich jedenfalls habe sie ihn nie sagen hören. Aber dass er die Worte nie geschrieben hat, stimmt eindeutig nicht. Ich brauchte Jahre, um den Mut zu fassen, ihre alten Briefe zu lesen, und das lag unter anderem daran, dass der erste Brief meines Vaters, auf den ich nach dem Tod meiner Mutter einen Blick warf, mit einem Kosenamen begann («Irenie»), den ich ihn in den 35 Jahren, die ich ihn kannte, nie habe sagen hören, und mit einer Erklärung endete («Ich liebe Dich, Irene»), deren Anblick ich nicht ertragen konnte. Das klang überhaupt nicht nach ihm, und so vergrub ich

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