Weiter weg
eine Nötigung.
Obwohl mein Vater Briefe voller Lebendigkeit und Neugier schrieb, fand er nichts Schlimmes daran, meiner Mutter vier Jahrzehnte lang Kochen und Hausputz aufzuzwingen, während er sich seiner Erwerbstätigkeit draußen in der Männerwelt erfreute. Anscheinend ist es, in der kleinen Welt der Ehe ebenso wie in der großen des amerikanischen Lebens, die Regel, dass diejenigen ohne eine Erwerbstätigkeit sentimental sind und umgekehrt. Die verschiedenen Hysterien nach dem 11. September, die Landplage der «Ich liebe dich»s ebenso wie die weit verbreitete Furcht vor den Muselmanen und der Hass auf sie, das alles waren Hysterien der Machtlosen und Überwältigten. Hätte meine Mutter größere Entfaltungsmöglichkeiten gehabt, dann hätte sie ihre Gefühle vielleicht realistischer auf deren Objekte einstellen können.
So kalt, verklemmt oder sexistisch mein Vater nach heutigen Maßstäben auch erscheinen mag, bin ich doch dankbar, dass er mir nie explizit gesagt hat, dass er mich liebt. Mein Vater liebte die Privatsphäre, was bedeutet: Er respektierte den öffentlichen Bereich. Er glaubte an Zurückhaltung, Protokoll und Vernunft, weil ohne das seiner Überzeugung nach eine Gesellschaft unmöglich debattieren und Entscheidungen zu ihrem Besten fällen kann. Es wäre schön gewesen, zumal für mich, wenn er gelernt hätte, seine Gefühle meiner Mutter gegenüber mehr zu zeigen. Aber jedes Mal, wenn ich heute eines dieser ins Handy geschrienen elterlichen «Ich liebe dich»s höre, empfinde ich es als Glück, den Vater gehabt zu haben, den ich hatte. Er liebte seine Kinder über alles. Und zu wissen, dass er es so empfand und es nicht sagen konnte, zu wissen, dass er darauf vertrauen konnte, dass ich wusste, dass dem so war, und nie von ihm erwartete, dass er es sagte: Das war der Kern, war die Substanz der Liebe, die ich für ihn empfand. Einer Liebe, die ihm laut zu erklären ich wiederum immer sorgsam vermied.
Und dennoch: Das war der leichte Teil. Zwischen mir und dem Ort, an dem mein Dad jetzt ist – dem Grab –, kann nur noch Schweigen übermittelt werden. Niemand hat eine größere Privatsphäre als die Toten. Mein Dad und ich sagen einander jetzt nicht sehr viel weniger, als wir es in manchen Jahren zu seinen Lebzeiten taten. Der Mensch, den ich aktiv vermisse – mit dem ich im Geiste streite, dem ich Sachen zeigen will, den ich gern in meiner Wohnung sähe, über den ich mich lustig mache, dem gegenüber ich reumütig bin –, ist meine Mutter. Der Teil von mir, der sich über Handy-Störungen ärgert, stammt von meinem Vater. Der Teil, der mein BlackBerry mag, der alles leichter nehmen und sich der Welt anschließen will, stammt von meiner Mutter. Sie war die modernere der beiden, und obwohl nicht sie, sondern er der Erwerbstätige war, war sie am Ende doch aufseiten der Sieger. Wäre sie heute noch am Leben und wohnte noch in St. Louis, und würden Sie zufällig im Lambert Airport neben mir sitzen und wie ich auf eine Maschine nach New York warten, dann müssten Sie womöglich ertragen, mich sagen zu hören, dass ich sie liebe. Aber ich würde es leise sagen.
(Übersetzt von Eike Schönfeld)
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David Foster Wallace
Bemerkungen beim Gedenkgottesdienst,
23. Oktober 2008
Wie viele Schriftsteller, aber sogar mehr noch als die meisten, wollte Dave alles unter Kontrolle haben. Chaotische gesellschaftliche Anlässe stressten ihn schnell. Ganze zwei Mal habe ich ihn ohne Karen auf einer Party gesehen. Zu der einen, die Adam Begley gab, musste ich ihn geradezu hinzerren, und kaum waren wir durch die Haustür, kaum ließ ich ihn nur kurz aus den Augen, machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück in meine Wohnung, um dort Tabak zu kauen und ein Buch zu lesen. Bei der zweiten blieb ihm nichts anderes übrig als zu bleiben, denn sie fand zur Feier des Erscheinens von Unendlicher Spaß statt. Er überstand sie, indem er sich immerzu und mit schmerzlich übertriebener Förmlichkeit bedankte.
Was Dave unter anderem zu einem außergewöhnlichen Hochschullehrer machte, war die formale Struktur dieser Tätigkeit. Innerhalb ihrer Grenzen konnte er gefahrlos aus seinen enormen Beständen an Freundlichkeit, Weisheit und Sachverstand schöpfen. Ähnlich gefahrlos war die Struktur von Interviews. War Dave selbst der Befragte, konnte er sich entspannt auf seinen Interviewer einstellen. War er der Journalist, arbeitete er am besten, wenn es ihm gelang, einen Techniker zu finden
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