Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
starrte auf den riesigen viktorianischen Schreibtisch, der wie ein antiker Sarkophag in der Mitte des Zimmers residierte.
    Pal Maciver blickte zum Mann auf dem Gemälde und sah dort sein eigenes Antlitz. Er atmete tief ein und trat über die Schwelle.
    Dies war der Augenblick, an dem das Merkwürdige begann. Bislang war er voll und ganz der Mann der Tat gewesen, in all seinen Sinnen auf die Ausführung seiner wohlüberlegten Pläne konzentriert. Doch als er durch die Tür trat, überkam ihn ein Bewusstsein dieser anderen, dunkleren Schwelle, die mit jeder Minute näher rückte, und hüllte ihn ein wie der Nebel draußen und machte ihn hilflos und fahrig.
    Dann übernahm sein starker Wille das Kommando. Es gab noch viel zu tun. Er rief den Tatmenschen auf den Plan und übertrug ihm die Herrschaft, und der Tatmensch kehrte zurück, aber nur zum Preis einer seltsamen Fragmentierung seiner Wahrnehmung. Statt sich durch die unmittelbare Nähe des Todes wunderbar konzentrieren zu können, musste er entdecken, dass sich seine Person gespalten hatte, in einen Tatmenschen und einen Gefühlsmenschen, oder eigentlich in drei. Denn, und hier kam das Merkwürdigste überhaupt, er war nicht nur dieses zweifache Bühnenpersonal, sondern auch das Publikum, ein unabhängiger, fast gleichgültiger Beobachter, der irgendwo in der Nähe des Porträts schwebte und mit Mitleid auf jenen Part von ihm herabsah, der wie ein Gespenst in einem gestaltlosen Strudel aus Angst und Verlust und Verwirrung und Verzweiflung trieb, während er gleichzeitig und bewundernd den Tatmenschen musterte, der mit gewandter Präzision seinen Vorbereitungen nachging.
    Der Tatmensch schritt durch das Arbeitszimmer, stellte die Kerze auf den Schreibtisch, überprüfte, ob die schweren Vorhänge vor den Fenstern mit den verschlossenen Fensterläden auch wirklich zugezogen waren, und schaltete das helle Licht in der Mitte an.
    Auf dem Schreibtisch ausgebreitet lag ein Faden von einem Meter achtzig Länge. Er nahm ihn zur Hand, zog ein Feuerzeug heraus, drückte mit dem Daumen leicht auf den Hebel, um Gas freizusetzen, ohne einen Funken auszulösen, und hielt den Faden in den Gasstrahl. Dann führte er den Faden durch das Schlüsselloch, steckte an der Türinnenseite den Schlüssel ins Loch, wickelte das Ende des Fadens drinnen um den Schlüsselkopf, so dass noch etwa ein Meter nach unten hing, ging hinaus, klickte erneut auf das Feuerzeug und hielt die Flamme ans baumelnde Ende. Die Flamme fraß sich den Faden hoch, verschwand im Schlüsselloch, kam innen wieder zum Vorschein und lief um die Wickelungen am Schlüssel. Er ließ sie bis etwa einen halben Meter vor dem Fadenende abbrennen, dann blies er sie aus.
    Er säuberte die Außenseite der Tür von allen Spuren des versengten Fadens, schloss die Tür und drehte sehr vorsichtig den Schlüssel um.
    Etwa einen halben Meter neben der Tür befand sich an der Wand eine hohe viktorianische Etagere. Auf dem Brett, das sich auf gleicher Höhe mit dem Schlüsselloch befand, stand ein tragbarer Plattenspieler. Die Feststellschrauben waren gelockert, so dass er den Plattenteller abnehmen konnte. Aus dem nicht versengten Ende des Fadens formte er eine Schlinge, ließ sie über die Antriebswelle fallen und zog sie straff. Dann führte er das angesengte Ende des Fadens durch die Zuführung des Stromkabels, setzte den Plattenteller auf und zog die Schrauben fest. Er nahm eine Schallplatte, die am Tischbein lehnte, und legte sie auf den Teller. Er schloss das Stromkabel an der Steckdose in der Fußleiste an, stellte den Schalter auf »play« und schaltete den Strom ein. Der Arm schwang herum, senkte sich und führte die Nadel in die Rille. Zum zweiten Mal an diesem Abend erklangen im Haus die ersten Takte der sanftesten aller Melodien, des Eröffnungsstücks »Von fremden Ländern und Menschen« aus Schumanns
Kinderszenen
.
    Er erhob sich und sah zu, wie die Drehungen des Plattentellers den Faden in die Tiefen des Geräts zogen. Bevor er ganz verschwand, erfasste er mit Daumen und Zeigefinger das Fadenende, hielt es fest, unterbrach damit kurz die Musik, dann ließ er es los.
    Er schaltete das Licht aus. Die Dunkelheit brandete zurück, als sehnte sie sich danach, die Kerze auszulöschen. Doch die winzige Flamme brannte weiter, füllte die hohlen Vertiefungen seines Gesichts mit Schatten und verwandelte die Erhöhungen zu Pergament, während er hinter den Schreibtisch ging und auf dem reich verzierten Mahagoni-Lehnstuhl Platz

Weitere Kostenlose Bücher