Wellentraum
noch da sein.«
»Dann habe ich Gesellschaft.«
Es war ihm nicht bewusst gewesen, wie gut es sich anfühlte, sich auf ein Familienmitglied verlassen zu können.
»Großartig. Danke.« Er stand auf. »Ich muss jetzt gehen.«
»Du solltest auch ein bisschen schlafen«, mahnte Lucy.
»Ich muss an den Strand zurück. Ich kann nicht erwarten, dass eine Horde freiwilliger Feuerwehrleute den Tatort bis in alle Ewigkeit unangetastet lässt. Sobald es Tag wird, suche ich die Umgebung ab.«
Lucy trug ihre Tassen zum Spülbecken. »Du meinst nach ihrer Kleidung?«
Caleb zuckte mit den Schultern. »Nach Kleidung, einer Tasche, Schlüsseln.«
Einer Leiche.
Niemand sprang in ein Feuer und verschwand einfach. Es musste Spuren geben, entweder von einem Überlebenden oder von einem Toten.
Er würde sie finden.
»Du wirst ihn nicht finden«,
hatte Maggie gesagt und den Mund voller Bitterkeit verzogen.
»Ich brauche das wieder, was er mir weggenommen hat.«
»Und was ist das?«
»Im Feuer.«
»Was hat er dir weggenommen, Maggie?«
Sie hatte nicht darauf geantwortet. Verzweiflung oder Misstrauen hatte sie davon abgehalten. Ihr Schweigen verletzte ihn wie die Scherben einer zerbrochenen Flasche.
»Ich gehe nach oben«, sagte er. »Gute Nacht sagen.«
Seine Schwester warf ihm einen zweifelnden Blick zu, stellte jedoch keine Fragen. Was gut war, denn er konnte ja nicht einmal sich selbst dieses rastlose Bedürfnis erklären, Maggie zu sehen und sich Klarheit über das zu verschaffen, was zwischen ihnen war. Durch Reden, wenn sie denn redete.
Oder auf jede andere Art.
Während er die Stelle an seinem Arm rieb, wo sie ihn gebissen hatte, stieg er die schmale Treppe hinauf. Was wusste Maggie? Woran erinnerte sie sich? Wie konnte er sie beschützen, wenn ihm das nicht bekannt war?
Er blieb in der Dunkelheit der Treppe stehen. In den Schatten seines Gedächtnisses sah er wieder, wie sich die große, schmale Gestalt schwankend gegen die Flammen abhob, bevor sie herumwirbelte und ins Feuer sprang.
Und verschwand.
Schweiß kroch seinen Rücken hinunter. Er hatte seit Wochen keinen Flashback mehr gehabt. Seine Alpträume besserten sich. Aber er musste sich die Möglichkeit eingestehen, dass die Gefahr, in der Maggie geschwebt hatte, eine Art Stressreaktion bei ihm ausgelöst hatte – eine Halluzination oder so etwas Ähnliches.
Kein Wunder, dass sie ihm nicht vertraute.
Er konnte sich ja nicht einmal selbst vertrauen.
Brüder,
dachte Maggie verwirrt.
Wenn nicht schon der Schlag auf ihren Kopf dafür gesorgt hätte, dass ihre Schläfen hämmerten, dann hätte es diese neue Entdeckung geschafft.
Caleb war Dylans Bruder, der Sohn eines menschlichen Vaters und einer Selkie-Mutter. Machte ihn das also zum halben Selkie?
Dylans Worte hallten in ihrer Erinnerung wider.
»Es ist unmöglich, etwas halb zu sein. Du bist ein Selkie, oder du bist es nicht. Du lebst im Meer, oder du stirbst an Land.«
»Du stirbst …«
So wie sie gerade starb. Austrocknete.
Margred kauerte sich in der Badewanne zusammen. Ihr Fleisch schreckte vor den fremdartigen, glänzenden Armaturen und kalten, glatten Oberflächen zurück. Jenseits von Sanctuary, fern der Zauber von Caer Subai, alterten Selkies in Menschengestalt fast mit derselben Geschwindigkeit wie Sterbliche – was einer der Gründe war, warum die ganz Alten wie der König beschlossen hatten, »unter den Wellen« zu leben und nur noch selten menschliche Form anzunehmen.
Margred konnte sich gut vorstellen, dass die Bedrohung durch das Altern – mehr noch als die Angst vor dem Tod – Calebs Mutter dazu getrieben hatte, ihren Mann und zwei ihrer Kinder zu verlassen.
Dreizehn Jahre an Land?
Der Gedanke ließ sie erschauern.
Kein Wunder, dass, als bei Dylan die Verwandlung eingesetzt hatte, seine Mutter ihre Chance ergriffen hatte und mit ihrem erstgeborenen Sohn ins Meer zurückgekehrt war. Caleb musste damals noch ein kleiner Junge gewesen sein. Und Lucy fast noch ein Baby.
Aber … Margred runzelte beunruhigt die Stirn. Woher konnte ihre Mutter gewusst haben, dass die Verwandlung nicht auch über die beiden kommen würde?
Wie hatte sie sie verlassen können, wenn sie es nicht gewusst hatte?
Vielleicht … Margred spreizte die Zehen unter Wasser und zog sie träge vor und zurück. Vielleicht hatte ihre Mutter vorgehabt zurückzukehren? Dylan hatte gesagt, dass seine Mutter gestorben war, ertrunken in einem Fischernetz. Die Selkie-Frau hatte also nie ihre Kinder
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