Wen das Feuer verbrennt (German Edition)
und untüchtiger als Männer? Taugte der weibliche Verstand
wirklich nicht für mehr, als für Klatschgeschichten und Gedichte;
der weibliche Körper nur zur Dekoration oder zur Reproduktion eines
Erben?
Nein, gab sich
Ravenna selbstbewusst die Antwort. Frauen konnten mehr. Sie war das
beste Beispiel. Ihr geliebter Vater hätte sie niemals so umfassend
ausbilden lassen, wenn Frauen nur verstandeslose Hüllen wären.
Bei dem Gedanken an
ihren Vater schossen Ravenna heiße Tränen in die Augen. Sie
versuchte diese zurückzudrängen, doch die Erinnerungen an ihren
geliebten Vater und ihre wunderbare Kindheit in Indien waren stärker.
Kapitel
2
„ Du
kannst nicht hier bleiben, Ravenna. Indien ist zur Zeit viel zu
gefährlich für eine mittellose, junge weiße Frau ohne Familie,“
die Stimme von James Sinclair, Ravennas Vater, klang brüchig und
sehr schwach. Von vielen Kissen gestützt, lag der ehemals stattliche
Handelskaufmann schwach und zerbrechlich unter einem weißen
Baldachin auf seinem Bett. Ein Blick auf seine wachsbleiche Haut
verriet: Er war dem Tode näher als dem Leben. Seine Hand suchte
leise nach der ihren. Ravenna zog die kraftlose Hand ihres Vaters an
ihre tränenfeuchte Wange, drückte sie verzweifelt während sie
hilflos um Fassung rang.
„Lass mich
nicht allein, Vater. Bitte, lass' mich nicht allein!“ flüsterte
sie voller Inbrunst, während sie versuchte tausend brennende Tränen
zurückzuhalten.
„ Wenn
ich es doch nur könnte, Liebes!“ James
Sinclair röchelte angestrengt nach Luft. Das Reden kostete ihn viel
Kraft.
„ R avenna
ich habe nicht mehr viel Zeit, hör mir bitte zu!“ Der einstmals so
stolze und kräftige Mann hatte Tränen in den Augen, als er seine
geliebte Tochter so hilflos und verzweifelt neben sich sitzen sah.
Ihr Anblick brach ihm das Herz.
„ Ich
habe einen Plan für dich,“ versuchte er sie aufzumuntern, obwohl
er wußte wie riskant sein Vorhaben war.
„ Eliza
wird dir dabei helfen. Dazu musst du aber noch einiges über die
Familie deiner Mutter wissen,“ er bekam einen heftigen Hustenanfall
und brauchte eine Weile, bis er sich wieder soweit erholt hatte, dass
er weitersprechen konnte. „Eigentlich ist in England nur noch einer
aus der Familie deiner Mutter übrig: dein Großvater, Baronet Sir
William Byam!“
Ravennas heiße
Tränen versiegten für einen Moment und sie horchte verdutzt auf.
Sie, Ravenna, hatte einen adeligen Großvater in England? Das war ihr
völlig neu. Ravenna wußte so gut wie gar nichts über die Familie
ihrer Mutter. Selbst die Erinnerung an ihre Mutter war nur ein
flüchtiger Schatten. Wie schon so viele englische Landsleute vor ihr
war auch Gillian Sinclair der Malaria im tropisch-heißen Indien zum
Opfer gefallen. Nur wenige Monate zuvor war schon Ravennas ein Jahr
älterer Bruder Raven an der fiebrigen Tropenkrankheit gestorben.
Ihr Vater, bis dahin
ein sehr wohlhabender und äußerst geschickter Geschäftsmann im
Ostindienhandel, hatte sich von diesen grausamen Schicksalsschlägen
nie wieder richtig erholt. Seit dem Tod dieser beiden geliebten
Menschen lebte er in ständiger Angst auch noch die letzte
Überlebende seiner Familie, seine kleine Ravenna, zu verlieren. Er
hütete sie einerseits wie seinen Augapfel, andererseits las er ihr
jeden Wunsch von den Augen ab. Er ließ sie Lesen und Schreiben
lernen, Reiten, Fechten und sogar Schwimmen. Alle möglichen
Gelehrten und Experten unterrichteten sie heimlich in Heilkunde,
Astronomie, Literatur, Landwirtschaft, Religion, Philosophie oder
Handel. Sie lernte aber auch so unnütze Dinge wie Jonglieren,
Sticken oder Gedichte rezitieren.
James Sinclair nahm
Ravenna überall mit hin. Er ließ sie so gut es ging keine Sekunde
aus den Augen. Auch wenn dies bedeutete, dass er Ravenna auf Reisen
zu Gewürzplantagen, Märkten oder in den Hafen sicherheitshalber in
Jungenkleidung stecken musste.
Ravenna wuchs
behütet und gleichzeitig frei von Zwängen auf. In der feinen
englischen Gesellschaft von Bombay rümpfte man bereits die Nase über
die viel zu kluge Tochter von James Sinclair. Viele hielten Ravennas
Vater für verrückt, dass er seiner Tochter so viele unschickliche
Freiheiten ließ. Die Matronen der Gesellschaft zerrissen sich das
Maul über das schöne, kluge Sinclair-Mädchen, das mit zwanzig
Jahren noch immer nicht verheiratet war. Gleichzeitig taten sie aber
alles, um ihre heiratswilligen Söhne, die von Ravennas Schönheit
sehr angetan waren, von ihr fernzuhalten. Eine
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