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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Insekten verunreinigten die makellos schwarze Oberfläche. Was bedeuten musste, dass die Schale erst vor Kurzem gefüllt worden war.
    Was bedeuten musste …
    Adrenalin schoss durch seinen Körper, kurz bevor er die Stimme hörte.
    Gefesselt auf dem Autorücksitz, war es Whelk nicht leichtgefallen, einen passenden Zeitpunkt für seinen Fluchtversuch zu bestimmen. Tatsache war gewesen, dass Neeve einen Plan zu haben schien, was Whelk nicht unbedingt von sich selbst hatte behaupten können. Allerdings war es höchst unwahrscheinlich gewesen, dass sie versuchen würde, ihn zu töten, bevor alle Vorbereitungen für das Ritual getroffen waren. Also hatte Whelk sich in seinem Wagen, der jetzt nach Knoblauch gestunken hatte und voller Krümel war, bis an den Waldrand chauffieren lassen. Neeve hatte nicht den Mut gehabt, querfeldein zu fahren – wofür er sehr dankbar war –, und den Wagen auf einem kleinen gekiesten Wendeplatz geparkt, sodass sie den Rest des Wegs hatten laufen müssen. Es war noch nicht dunkel gewesen, dennoch war Whelk immer wieder über Grasbüschel gestolpert.
    »Tut mir leid«, hatte Neeve gesagt. »Ich habe sogar noch auf Google Maps nach einem näheren Parkplatz gesucht.«
    Whelk, den ungefähr alles an Neeve maßlos aufgeregt hatte, von ihren glatten, weichen Händen über ihren knittrigen Rock bis hin zu ihrem gelockten Haar, hatte ziemlich barsch erwidert: »Warum entschuldigen Sie sich überhaupt? Haben Sie nicht sowieso vor, mich umzubringen?«
    Neeve war zusammengezuckt. »So dürfen Sie das nicht betrachten. Sie sind als Opfer vorgesehen und das ist eine sehr ehrenhafte Aufgabe mit einer langen, wunderbaren Tradition. Abgesehen davon haben Sie es verdient. Es ist nur fair.«
    Whelk hatte gefragt: »Heißt das, wenn Sie mich töten, müsste das der Fairness halber auch jemand mit Ihnen tun? Irgendwann?«
    Er war über ein weiteres Grasbüschel gestolpert und diesmal hatte Neeve sich nicht entschuldigt und auch nicht seine Frage beantwortet. Stattdessen hatte sie ihn mit einem schier endlosen Blick fixiert, der weniger eindringlich gewesen war als vielmehr einfach ermüdend lang. »Ich muss gestehen, dass ich es für einen kurzen Moment bedauert habe, Sie gewählt zu haben, Barrington. Bis ich Ihnen den Elektroschock versetzt habe, schienen Sie mir ein sehr angenehmer Mensch zu sein.«
    Es war nicht leicht gewesen, eine höfliche Unterhaltung zu führen, nachdem zur Sprache gekommen war, dass ein Gesprächspartner den anderen mit einem Elektroschocker angegriffen hatte, also waren sie eine Weile schweigend weitergegangen. Für Whelk war es ein eigenartiges Gefühl gewesen, in den Wald zurückzukehren, in dem er Czerny zum letzten Mal lebendig gesehen hatte. Normalerweise hätte er gedacht, dass ein Wald eben ein Wald war und es ihm nichts ausmachen würde, diesen hier noch einmal zu betreten, besonders nicht zu einer völlig anderen Tageszeit. Etwas an der Atmosphäre jedoch hatte ihn zurückkatapultiert zu jenem Moment, zu dem Skateboard in seiner Hand, zu der traurigen Frage, die in Czernys letztem Keuchen gelegen hatte.
    In seinem Kopf hatte sich ein Flüstern erhoben, zischend, knisternd, wie ein gerade zum Leben erwachtes Feuer, doch Whelk hatte die Stimmen ignoriert.
    Er hatte sein altes Leben vermisst, alles daran: die Sorglosigkeit, die extravaganten Weihnachtsfeiern zu Hause, das Gaspedal unter seinem Fuß, die freie Zeit, die damals noch ein Segen und kein leerer Fluch gewesen war. Er hatte es vermisst, zur Schule zu gehen und sie zu schwänzen und das Ortsschild von Henrietta auf der Interstate 64 mit Graffiti zu besprühen, nachdem er sich an seinem Geburtstag unerwartet heftig betrunken hatte.
    Er hatte Czerny vermisst.
    Diesen Gedanken hatte er sich in den vergangenen sieben Jahren nicht ein einziges Mal gestattet. Stattdessen hatte er immer wieder versucht, sich Czernys Nichtsnutzigkeit vor Augen zu halten. Sich daran zu erinnern, wie unerlässlich sein Tod gewesen war.
    Nun jedoch hatte er bloß noch an den Laut denken können, den Czerny ausgestoßen hatte, als er ihm damals den ersten Schlag verpasst hatte.
    Neeve hatte Whelk nicht zum Stillsitzen ermahnen müssen, damit sie das Ritual hatte vorbereiten können. Während sie die fünf Eckpunkte eines Pentagramms mit einer unangezündeten Kerze, einer angezündeten Kerze, einer leeren Schale, einer gefüllten Schale und drei kleinen, zu einem Dreieck arrangierten Knochen markiert hatte, hatte er bloß dagesessen, die Knie

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