Wen der Rabe ruft (German Edition)
»Ich habe so eine Ahnung.«
44
E s gab Bäume und dann gab es Bäume bei Nacht. Im Dunkeln wurden Bäume Silhouetten, farblos, körperlos, stets in Bewegung. Als Adam Cabeswater erreichte, erschien es ihm wie ein lebendiges Wesen. Der Wind in den Zweigen klang wie das raue Blaffen eines abrupt ausgestoßenen Atemzugs und das Prasseln des Regens auf dem Blätterdach wie erschrocken eingesogene Luft. Es roch nach nasser Erde.
Adam lenkte den Strahl seiner Taschenlampe auf den Waldrand. Das Licht drang kaum zwischen die Bäume, wurde verschluckt vom unsteten Frühlingsregen, der nach und nach sein Haar durchnässte.
»Ich wünschte, ich hätte bei Tag herkommen können«, dachte Adam.
Er hatte keine Phobie vor der Dunkelheit. »Phobie« war die Bezeichnung für irrationale Angst und Adam hatte den Verdacht, dass es in Cabeswater nach Sonnenuntergang ganz rational eine Menge zu fürchten gab. »Na ja«, beruhigte er sich, »wenn Whelk hier ist und eine Taschenlampe dabeihat, sehe ich ihn schon.«
Das war ein schwacher Trost, aber Adam war schon zu weit gekommen, um jetzt wieder umzukehren. Er sah sich abermals um – man fühlte sich hier immer beobachtet –, dann machte er einen Schritt über das unsichtbare Gluckern des schmalen Bächleins und ging in den Wald.
Und alles war hell.
Den Kopf gesenkt, die Augen fest zugekniffen, schirmte er sein Gesicht mit der Taschenlampe ab. Unter seinen Lidern brannte es rot nach dem schnellen Wechsel von dunkel zu grell. Langsam öffnete er sie wieder. Der Wald rings um ihn war von warmer Nachmittagssonne erfüllt. Staubdurchsetzte goldene Strahlen brachen durch die Baumkronen und ließen den unscheinbaren Bach links von ihm glitzern. Das schräg einfallende Licht tönte die Blätter gelb, braun, rosa. Die pelzigen Flechten auf den Bäumen glühten in erdigem Orange.
Die Hand, die er vor sich ausstreckte, wirkte rosig und gebräunt. Träge Luft umschmeichelte seinen Körper, beinahe greifbar und mit goldenen Pünktchen durchsetzt, jedes Staubkorn eine winzige Laterne.
Von der Nacht war nichts mehr zu sehen, genauso wenig wie von einem anderen Menschen.
Über ihm sang ein Vogel, der erste, den er sich in diesem Wald zu hören erinnerte. Sein Ruf war laut und schmetternd, nur vier oder fünf Töne. Er klang wie ein Jagdhorn im Herbst.
Hinfort, hinfort, hinfort.
Der Laut versetzte Adam in ehrfürchtiges Staunen und stimmte ihn gleichzeitig traurig, passend zu Cabeswaters ganz eigener bittersüßer Schönheit.
»Einen solchen Ort dürfte es gar nicht geben«, sinnierte Adam und dachte im nächsten Moment hastig das Gegenteil. Cabeswater war hell geworden, nachdem Adam sich gewünscht hatte, es wäre nicht so dunkel, genau wie es die Farbe der Fische in dem Tümpel geändert hatte, nachdem Gansey gedacht hatte, sie sollten besser rot sein. Cabeswater nahm alles ebenso wörtlich wie Ronan. Er wusste nicht, ob er es tatsächlich durch pure Gedankenkraft verschwinden lassen konnte, aber er wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen.
Er musste seine Gedanken im Zaum halten.
Adam knipste die Taschenlampe aus, ließ sie in seine Umhängetasche fallen und folgte dem kleinen Bach, wie sie es beim ersten Mal getan hatten. Der Regen hatte ihn anschwellen lassen, sodass es leichter war, ihm stromaufwärts zu seiner Quelle zu folgen, während er sich in Adams Rücken durch einen wallenden Grasteppich bergab schlängelte.
Vor sich sah Adam schimmernde Reflexionen auf den Baumstämmen – die kräftigen, schrägen Strahlen der Nachmittagssonne spiegelten sich in dem rätselhaften Weiher, den sie am ersten Tag gefunden hatten. Er war fast da.
Er stolperte. Sein Fuß war an irgendetwas Unnachgiebigem und ebenso Unerwartetem hängen geblieben.
Was ist das?
Zu seinen Füßen stand eine flache, leere Schale. Sie war in einem hässlichen Violett glasiert und wirkte als einziger offensichtlich von Menschen geschaffener Gegenstand fremd an diesem Ort.
Adams verwirrter Blick schweifte von der Schale vor ihm zu einer weiteren, die sich in ungefähr drei Metern Entfernung ebenso seltsam von den rötlichen und gelben Blättern auf dem Boden abhob. Die zweite Schale sah aus wie die erste, nur dass sie bis zum Rand mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war.
Erneut fiel Adam auf, wie fehl am Platz dieser künstliche Gegenstand zwischen den Bäumen wirkte. Dann erfüllte ihn abermals Verwirrung, als er sah, wie frisch die Flüssigkeit war – kein Laub, kein Schmutz, keine Zweige oder
Weitere Kostenlose Bücher