Wen der Rabe ruft (German Edition)
hatte sich verändert.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als es auszusprechen.
»Adam ist weg. Er will die Ley-Linie aufwecken.«
43
E ine Meile entfernt im Fox Way blickte Blue auf, als es an ihre angelehnte Zimmertür klopfte.
»Schläfst du schon?«, fragte Maura.
»Ja«, antwortete Blue.
Maura trat ein. »Ich habe gesehen, dass bei dir noch Licht ist«, erklärte sie und ließ sich mit einem Seufzer auf Blues Bettkante sinken. Im schummrigen Licht wirkte sie so sanft wie ein Gedicht. Ein paar Minuten lang sagte sie gar nichts, sondern blätterte in Blues Büchern, die auf dem kleinen Kartentisch am Fuß des Betts lagen. Diese Stille zwischen ihnen war nichts Unvertrautes. Solange Blue denken konnte, war ihre Mutter abends in ihr Zimmer gekommen und sie hatten zusammen auf dem Bett gelegen und gelesen, jede an einem Ende. Früher, als Blue noch klein gewesen war, hatte ihre alte Matratze riesig gewirkt, doch heute, da Blue Menschengröße hatte, war es unmöglich, zu zweit darauf zu sitzen, ohne sich mit Knien oder Ellbogen zu berühren.
Nachdem sie sich eine Weile durch Blues Lektüreangebot gewühlt hatte, legte Maura die Hände in den Schoß und sah sich in dem winzigen Zimmer um. Das Licht der Nachttischlampe verbreitete ein schummriges Grün. An der gegenüberliegenden Wand hatte Blue Bäume aus Leinwand angebracht, die als Laub eine Collage von Blättern aus verschiedenen Papiersorten trugen, und die Schranktür war über und über mit Trockenblumen beklebt. Die meisten davon sahen noch ganz annehmbar aus, einige aber hatten schon deutlich bessere Tage erlebt. Ihr Deckenventilator war mit bunten Federn und Spitzenbändern verziert. Blue hatte die gesamten sechzehn Jahre ihres Lebens in diesem Zimmer verbracht und genau so sah es auch aus.
»Ich sollte mich wohl bei dir entschuldigen«, sagte Maura schließlich.
Blue, die ohne großen Erfolg versucht hatte, sich in eine Kurzgeschichte für den Literaturkurs zu vertiefen, legte das Buch weg. »Wofür?«
»Dafür, dass ich nicht ehrlich zu dir gewesen bin, wahrscheinlich. Weißt du, Mutter zu sein, ist wirklich nicht einfach. Ich persönlich gebe ja dem Weihnachtsmann die Schuld daran. Man bemüht sich so lange, seinem Kind zu verheimlichen, dass es ihn nicht gibt, dass man gar nicht merkt, wann damit besser Schluss sein sollte.«
»Mom, ich hab Calla und dich schon mit sechs Jahren beim Geschenkeeinpacken erwischt.«
»Das war doch nur eine Metapher, Blue.«
Blue tippte auf ihre Lektüre. »Eine Metapher ist ein Beispiel, mithilfe dessen etwas verdeutlicht werden soll. Aus dem, was du da gerade gesagt hast, ist mir überhaupt nichts deutlich geworden.«
»Verstehst du nun, was ich sagen will, oder nicht?«
»Du willst sagen, es tut dir leid, dass du mir nicht von Butternüsschen erzählt hast.«
Maura warf einen finsteren Blick zur Tür, als könnte Calla direkt dahinter lauern. »Musst du ihn so nennen?«
»Wenn du mir selbst von ihm erzählt hättest, müsste ich mich jetzt nicht auf das verlassen, was ich von Calla weiß.«
»Touché.«
»Wie hieß er wirklich?«
Ihre Mutter warf sich rücklings auf die Matratze. Sie lag quer, darum musste sie die Knie anwinkeln und die Füße gegen den Rahmen des Betts stemmen, und Blue musste ihre eigenen Beine anziehen, damit sie nicht eingequetscht wurden.
»Artemus.«
»Kein Wunder, dass du ihn lieber Butternüsschen genannt hast«, sagte Blue. Doch ehe ihre Mutter etwas darauf erwidern konnte, fügte sie hinzu: »Moment … ist Artemus nicht ein römischer Name? Lateinisch?«
»Ja. Und ich finde ihn eigentlich ganz schön. So engstirnig habe ich dich doch nicht erzogen.«
»Klar hast du das«, widersprach Blue. Sie fragte sich, ob es Zufall sein konnte, dass Latein in ihrem Leben momentan eine so große Rolle spielte. Wahrscheinlich hatte sie es Gansey zu verdanken, dass ihr gar nichts mehr zufällig vorkam.
»Ja, vielleicht hast du recht«, stimmte Maura nach einem Augenblick zu. »Also, pass auf. Das hier ist alles, was ich weiß. Ich glaube, dein Vater hat irgendetwas mit Cabeswater oder der Ley-Linie zu tun. Lange bevor du geboren wurdest, haben Calla, Persephone und ich mit ein paar Dingen herumexperimentiert, von denen wir besser die Finger gelassen hätten …«
»Drogen?«
»Rituale. Wieso, experimentierst du etwa mit Drogen herum?«
»Nein. Aber möglicherweise mit Ritualen.«
»Da wären mir Drogen fast lieber.«
»Danke, kein Interesse. Mittlerweile ist doch jede Wirkung
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