Wen der Rabe ruft (German Edition)
Adam?«
»Arbeiten«, antwortete Gansey. »Er kommt später.«
Noahs Knochen wurden im Familiengrab der Czernys auf einem abgelegenen Talfriedhof beigesetzt. Die frisch ausgehobene Grube lag am Rand des lang gezogenen Geländes an der felsigen Flanke eines Hügels. Eine Plane schirmte den Erdhaufen vor den Blicken der Trauernden ab. Noahs Familie stand direkt neben dem Grab. Der Mann und die beiden Mädchen weinten, die Frau aber starrte mit trockenen Augen in die Bäume hinaus. Blue brauchte keine hellseherischen Kräfte, um zu erkennen, wie traurig sie war. Traurig und stolz.
Noahs Stimme, kühl und kaum hörbar, erhob sich flüsternd an ihrem Ohr. »Bitte sag etwas zu ihnen.«
Blue antwortete nicht und drehte bloß den Kopf in Richtung der Stimme. Sie konnte ihn beinahe spüren, wie er direkt an ihrer Schulter stand, seinen Atem an ihrem Hals, die Hand nervös auf ihren Arm gepresst.
»Du weißt, dass das nicht geht«, sagte sie leise.
»Du musst.«
»Die würden mich für eine Irre halten. Und was würde es bringen? Was kann ich denn schon sagen?«
Noahs Stimme war schwach, aber verzweifelt. Seine Not erfüllte sie wie ein Summen. »Bitte.«
Blue schloss die Augen.
»Sag ihr, es tut mir leid, dass ich den Schnaps getrunken habe, den sie zum Geburtstag bekommen hat«, flüsterte Noah.
Oh Mann, Noah!
»Was machst du denn?« Gansey hielt sie am Arm fest, als sie auf das Grab zugehen wollte.
»Mich zum Affen.« Sie löste sich von ihm. Während Blue auf Noahs Familie zuging, testete sie im Kopf verschiedene Gesprächsanfänge, um nicht allzu verrückt zu wirken, aber so recht gefiel ihr keiner davon. Sie war oft genug bei ihrer Mutter dabei gewesen, um zu wissen, wie es ablaufen würde. Noah, was mache ich nicht alles für dich … Sie musterte die traurige, stolze Frau. Auch aus der Nähe war ihr Make-up makellos, ihre Haarspitzen sorgfältig eingedreht. Alles war perfekt zurechtgeknotet, -geschminkt und -gesprüht, ihre Trauer so tief in ihr begraben, dass nicht einmal ihre Augen gerötet waren. Doch davon ließ Blue sich nicht täuschen.
»Mrs Czerny?«
Noahs Eltern wandten ihr die Köpfe zu. Verlegen strich Blue mit der Hand eine der Spitzenbahnen auf ihrem Kleid glatt. »Ich heiße Blue Sargent. Ich wollte Ihnen mein herzlichstes Beileid aussprechen. Und, tja, also meine Mutter arbeitet als Wahrsagerin. Ich habe eine« – schon verzogen die beiden unwillig die Gesichter – »Nachricht von Ihrem Sohn.«
Mrs Czernys Blick verfinsterte sich. Sie schüttelte nur den Kopf und sagte ganz ruhig: »Nein, die hast du nicht.«
»Bitte lass uns in Ruhe«, sagte Mr Czerny. Er musste all seine Beherrschung aufbieten, um noch einigermaßen höflich zu bleiben, was schon wesentlich mehr war, als sie erwartet hatte. Blue hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, diesen intimen Familienmoment zu stören. »Bitte geh.«
»Sag es ihr«, flüsterte Noah.
Blue holte tief Luft. »Mrs Czerny, es tut ihm leid, dass er den Schnaps getrunken hat, den Sie zum Geburtstag bekommen haben.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Mr Czerny und Noahs Schwestern blickten von Blue zu Noahs Mutter. Noahs Vater öffnete den Mund und im nächsten Moment fing Mrs Czerny an zu weinen.
Niemand von ihnen bemerkte, wie Blue vom Grab zurücktrat.
Später gruben sie ihn wieder aus. Ronan stand neben seinem BMW, den er mit offener Motorhaube an der Mündung des Zufahrtswegs geparkt hatte, als Straßenblockade und Wachposten gleichermaßen. Adam bediente den Bagger, den Gansey gemietet hatte. Und Gansey bettete Noahs Knochen in einen Seesack um, während Blue mit der Taschenlampe in den Sarg leuchtete, um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte. Dann begrub Adam den leeren Sarg wieder, sodass ein frisches Grab zurückblieb, das genauso aussah, wie sie es vorgefunden hatten.
Als sie aufgeregt und völlig außer Atem über ihr Verbrechen zurück zum BMW rannten, empfing Ronan Gansey mit den Worten: »Dir ist ja wohl klar, dass die Sache spätestens dann rauskommt und dir die Tour vermasselt, wenn du für den Kongress kandidierst.«
»Halt die Klappe und fahr, Lynch.«
Sie begruben die Knochen an der alten Kirchenruine. Das war Blues Idee gewesen.
»Dort stört ihn niemand«, hatte sie gesagt. »Und wir wissen, dass die Ley-Linie dort verläuft. Und es ist geweihter Boden.«
»Tja«, sagte Ronan. »Dann hoffe ich mal stark, dass es ihm auch gefällt. Immerhin hab ich mir einen Muskel gezerrt.«
»Wobei
Weitere Kostenlose Bücher