Wen der Rabe ruft (German Edition)
Augenblick, als der Geist Neeves Haar berührt hatte.
Blue dachte: »Ich wünschte, du wärst Gansey.« Doch sobald der Gedanke zu Ende gedacht war, wurde ihr klar, dass er nicht der Wahrheit entsprach. Denn wer immer dieser Gansey auch sein mochte, er hatte nicht mehr lange zu leben.
9
A ls Gansey in der Nacht aufwachte, schien ihm der Mond ins Gesicht und sein Telefon klingelte.
Er tastete neben sich auf der Decke danach. Ohne seine Brille oder Kontaktlinsen war er praktisch blind, weshalb er sich das Display bis auf wenige Zentimeter vor die Augen halten musste, um den Namen lesen zu können, der darauf aufleuchtete: MALORY, R. Das erklärte, warum das Telefon zu so einer ungewöhnlichen Zeit klingelte: Dr. Roger Malory lebte in Sussex, mit fünf Stunden Zeitverschiebung zu Henrietta. Um Mitternacht in Virginia war es für den Frühaufsteher Malory fünf Uhr morgens. Malory war einer der Experten für britische Ley-Linien. Er war um die achtzig Jahre alt – vielleicht aber auch hundert oder zweihundert – und hatte drei Bücher über das Thema geschrieben, die auf diesem (eher speziellen) Gebiet zu Klassikern geworden waren. Kennengelernt hatten sie sich in jenem Sommer, den Gansey halb in Wales und halb in London verbracht hatte. Malory war der Erste gewesen, der den fünfzehnjährigen Gansey ernst genommen hatte, wofür Gansey nicht so bald aufhören würde, ihm dankbar zu sein.
»Gansey«, begrüßte ihn ein fröhlicher Malory, der nicht im Traum auf die Idee kommen würde, ihn bei seinem Vornamen anzusprechen. Dann begann er ohne weiteres Vorgeplänkel ein ziemlich einseitiges Gespräch über das Wetter, die letzten vier Sitzungen seiner historischen Gesellschaft und seinen nervtötenden Nachbarn mit dem Collie. Gansey verstand ungefähr drei Viertel des Monologs. Nach fast einem Jahr in Großbritannien kam er zwar ganz gut mit den verschiedenen Dialekten dort zurecht, mit Malory hatte er jedoch trotzdem seine Schwierigkeiten – was wohl an der Kombination aus Nuscheln, Kauen, extrem hohem Alter, schlechter Kinderstube und einer miesen Telefonverbindung lag.
Gansey kroch aus dem Bett, kauerte sich neben seine Henrietta-Nachbildung und hörte höfliche zwölf Minuten lang mehr oder weniger konzentriert zu, bevor er vorsichtig unterbrach. »Schön, dass Sie anrufen.«
»Ich habe eine sehr interessante Textquelle gefunden«, sagte Malory. Dann erklang ein Geräusch, dem nach zu urteilen er entweder kaute oder etwas in Zellophan einwickelte. Gansey, der seine Wohnung gesehen hatte, hielt es durchaus für möglich, dass er beides gleichzeitig tat. »In der die Theorie aufgestellt wird, dass die Ley-Linien ruhen. Sie schlafen. Na, kommt dir das bekannt vor?«
»Wie Glendower! Und was bedeutet das?«
»Könnte die Erklärung dafür sein, warum sie mit der Wünschelrute so schwer zu orten sind. Wenn sie zwar da wären, aber nicht aktiv, wäre die Energie sehr schwach und unregelmäßig. In Surrey bin ich mit einem Bekannten einer Linie gefolgt – vierzehn Meilen bei grausigem Wetter, Regentropfen, dick wie Steckrüben – und dann ist sie einfach verschwunden.«
Gansey griff nach Klebstoff und ein paar Schindeln aus Pappe, um den hellen Mondschein für die Arbeit an einem der Dächer zu nutzen, während Malory sich weiter über den Regen beklagte. Dann fragte er: »Steht in Ihrer Quelle denn irgendetwas dazu, wie man die Ley-Linien wieder aktivieren kann? Wenn man Glendower wecken kann, dann doch sicher auch die Ley-Linien, oder?«
»Das wäre die logische Folgerung, ja.«
»Aber Glendower wird doch einfach wach, wenn man ihn entdeckt. Und auf den Ley-Linien laufen schon die ganze Zeit Leute rum.«
»Oh nein, Gansey, da täuschst du dich. Die spirituellen Pfade liegen ja unter der Erde. Sie mögen es nicht von Anfang an gewesen sein, aber heute sind sie von meterweise Erde und Dreck bedeckt, die sich über die Jahrhunderte angesammelt haben«, erklärte Malory. »Die hat seit Hunderten von Jahren niemand mehr berührt. Du und ich, wir wandeln nicht über die Linien. Wir folgen nur ihrem Echo.«
Gansey dachte daran, wie die Spur stets ohne erkennbaren Grund kam und ging, wenn er mit Adam und der Wünschelrute loszog. Malorys Theorie klang wirklich plausibel und, wenn er ganz ehrlich war, war das alles, was er brauchte. Er wünschte sich nichts dringender, als endlich anfangen zu können, seine Bücher nach weiteren Beweisen für die Theorie zu durchforsten, Schule hin oder her. Er spürte, wie ein
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