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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Überschrift »Ortsnamen mit walisischem Einschlag in der Nähe von Henrietta« aufgestellt. Blue kannte die meisten Städte auf der Liste. Welsh Hills, Glen Bower, Harlech, Machinleth.
    »Ich hab nicht drin gelesen«, beteuerte Donny. »Wollte nur wissen, ob ein Name drinsteht. Aber dann hab ich gesehen, dass das … na ja, ist irgendwie eher dein Kram.«
    Womit er wohl ausdrücken wollte, dass dies so ungefähr das war, was er von der Tochter einer Wahrsagerin erwartete.
    »Ich glaube, ich weiß, wem es gehört«, sagte Blue. Im Augenblick aber hatte sie nur einen Gedanken: Sie wollte unbedingt weiter in dem Buch blättern. »Ich nehme es mal mit.«
    Nachdem Donny zurück ins Restaurant gegangen war, schlug sie das Notizbuch wieder auf. Endlich hatte sie die Ruhe, seine schiere Fülle an Inhalt zu bestaunen. Selbst wenn das Thema sie nicht sofort in seinen Bann gezogen hätte, wäre das dem Buch allein mit seiner Ausstrahlung gelungen. Es war so viel darin eingeklebt, dass das Ganze kaum seine Buchform behalten hätte, wenn es nicht fest mit einer Lederschnur umwickelt gewesen wäre. Seiten um Seiten waren diesen ausgerissenen oder -geschnittenen Fragmenten gewidmet, was das Blättern zu einem wahren Vergnügen für ihre Finger machte. Blue ließ sie über die verschiedenartigen Oberflächen gleiten. Dickes cremeweißes Künstlerpapier mit schlanken, eleganten Lettern. Dünnes, bereits braun werdendes Papier mit einer spinnwebfeinen Serifenschrift. Glattes, zweckmäßig weißes Druckerpapier, mit nüchternen und modernen Buchstaben bedruckt. Ausgefranstes Zeitungspapier, brüchig und leicht vergilbt.
    Dann die Einträge, notiert mit einem halben Dutzend verschiedener Stifte, alle jedoch in derselben geschäftsmäßigen Handschrift. Mittels Kringeln, Pfeilen und Unterstreichungen verliehen sie dem Ganzen einen dringlichen Eindruck. Füllten den Rand mit Aufzählungen und eifrigen Ausrufezeichen. Widersprachen und verwiesen aufeinander, immer in der dritten Person. Linien wurden zu Kreuzschraffuren, wurden zu hingekritzelten Zeichnungen von Bergen, wurden zu krakeligen Bremsspuren hinter schnell aussehenden Autos.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis Blue eine Ahnung bekam, worum es in dem Notizbuch eigentlich ging. Der Inhalt war grob in mehrere Abschnitte unterteilt, doch es war offensichtlich, dass dem Besitzer bei einigen dieser Abschnitte irgendwann der Platz ausgegangen war und er hinten weitergemacht hatte. Blue fand einen Teil über Ley-Linien, unsichtbare Energielinien, die spirituelle Orte miteinander verbanden. Ein anderer Teil handelte von Owain Glyndŵr, dem sagenumwobenen Rabenkönig. Ein drittes Kapitel führte Legenden schlafender Könige auf, die im Inneren von Bergen auf ihre Entdeckung und ein neues Leben warteten. Und dann gab es noch einen ziemlich schauderhaften Teil über Könige, die geopfert worden waren, über Wassergöttinnen aus grauer Vorzeit und die alte Symbolkraft, die Raben zugesprochen wurde.
    Mehr als alles andere schien sich dieses Notizbuch zu sehnen. Es sehnte sich nach mehr, als es beinhalten konnte, mehr als Worte beschreiben oder Diagramme veranschaulichen konnten. Aus jeder entschlossenen Unterstreichung, jeder hektischen Skizze, jeder dunkel gedruckten Definition sprang einem die Sehnsucht förmlich entgegen. Das Ganze hatte etwas Gequältes, Melancholisches an sich.
    Inmitten der Kritzeleien erspähte Blue eine vertraute Form. Drei einander überschneidende Striche: ein längliches Dreieck mit Spitzen, die wie Schnäbel aufklafften. Genau wie Neeve es in den Staub auf der Kirchhofmauer gezeichnet hatte. Genau wie ihre Mutter es auf die beschlagene Tür der Dusche gezeichnet hatte.
    Blue strich die Seite glatt, um es sich genauer anzusehen. In diesem Teil ging es um Ley-Linien: »mystische Energiepfade, die Orte der Spiritualität miteinander verknüpfen«. Diese drei Striche tauchten über das Buch verteilt immer wieder auf, genau wie ein etwas mickrig aussehendes Stonehenge, ein paar seltsam lang gezogene Pferde und die beschriftete Skizze eines Grabhügels. Aber nirgends wurde das Symbol erläutert.
    Das konnte kein Zufall sein.
    Dieses Notizbuch gehörte ganz sicher nicht dem Raven Boy mit dem präsidentenhaften Auftreten. Irgendjemand anderes musste es ihm gegeben haben.
    »Vielleicht«, dachte sie, »gehört es ja Adam.«
    Er hatte in ihr dieselbe Empfindung ausgelöst wie das Notizbuch: ein Gefühl von Magie, ungeahnten Möglichkeiten, Gefahr. Dasselbe Gefühl wie in dem

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