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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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lag Ronan auf einer der dunklen Bänke. Ein Arm baumelte über den Rand, den anderen hatte er schräg über den Kopf ausgestreckt, sein Körper ein etwas dunkleres Stück Schwarz in einer ohnehin schwarzen Welt. Er regte sich nicht.
    Gansey dachte: »Nicht heute Nacht. Bitte lass es nicht heute Nacht sein.«
    Er rutschte in die Bank hinter Ronan und legte ihm die Hand auf die Schulter, als bräuchte er ihn bloß aufzuwecken, und er betete, dass es Wirklichkeit würde, wenn er nur fest genug daran glaubte. Die Schulter unter seiner Hand war warm; er roch Alkohol.
    »Wach auf, Mann«, sagte er. Die Worte klangen nicht so lässig, wie er beabsichtigt hatte.
    Ronans Schulter bewegte sich, als er Gansey das Gesicht zuwandte. Einen kurzen, haltlosen Moment fürchtete Gansey, dass er zu spät kam und Ronan tot war und seine Leiche jetzt nur erwachte, weil er, Gansey, es ihr befohlen hatte. Dann aber öffneten sich Ronans strahlend blaue Augen und der Moment verpuffte.
    Gansey atmete auf. »Du Scheißkerl.«
    Ronan sagte nur: »Ich konnte nicht träumen.« Dann, als er Ganseys besorgtes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich habe dir doch versprochen, dass es nie wieder passiert.«
    Wieder versuchte Gansey, seine Stimme lässig klingen zu lassen, aber auch diesmal gelang es ihm nicht. »Aber du bist ein Lügner.«
    »Ich glaube«, entgegnete Ronan, »da verwechselst du mich mit meinem Bruder.«
    Die Kirche hüllte sie in bedeutungsvolle Stille. Jetzt, da Ronans Augen offen waren, wirkte das Gebäude heller, so als hätten seine Mauern ebenfalls geschlafen.
    »Als ich gesagt habe, ich will nicht, dass du dich im Monmouth betrinkst, meinte ich nicht, dass du es woanders tun sollst.«
    Ronan antwortete, mit einem nur leichten Lallen: »Wer im Glashaus sitzt …«
    Gansey erwiderte pointiert: »Ich trinke vielleicht manchmal was, aber ich besaufe mich nicht.«
    Ronans Blick senkte sich auf etwas, das er an seine Brust gedrückt hielt.
    »Was ist das?«, wollte Gansey wissen.
    Ronans Finger krümmten sich um irgendetwas Dunkles. Als Gansey die Hand danach ausstreckte, ertastete er etwas Warmes, Lebendiges. Erschrocken riss er die Hand zurück.
    »Mein Gott«, stieß er hervor, während er noch zu begreifen versuchte, was er dort gefühlt hatte. »Ist das ein Vogel?«
    Ronan setzte sich langsam auf, seinen Schatz fest an sich gedrückt. Eine neue Wolke von Alkoholdunst schlug Gansey entgegen.
    »Rabe.« Es folgte eine lange Pause, in der Ronan auf seine Hände starrte. »Vielleicht auch ’ne Krähe. Glaube ich aber nicht. Ich … nein, glaube ich echt nicht. Corvus corax.«
    Sogar betrunken wusste Ronan noch die lateinische Bezeichnung für den gemeinen Kolkraben.
    Und es war nicht irgendeiner, das sah Gansey jetzt. Es war ein winziges Findelkind, dessen spärlich beflaumter Schnabel babyhaft arglos offen stand und dessen Flügel noch Tage und Nächte und wieder Tage vom Fliegen entfernt waren. Er war sich nicht sicher, ob er etwas berühren wollte, das so verletzlich wirkte.
    Der Rabe war Glendowers Vogel. Der Rabenkönig, so wurde er genannt, entstammte einer langen Linie von Königen, die mit diesem Vogel in Verbindung gebracht wurden. Der Legende nach konnte Glendower mit Raben sprechen und umgekehrt. Das war nur einer der Gründe, warum Gansey nach Henrietta gekommen war, in eine Stadt, die bekannt war für ihre Raben. Seine Haut kribbelte.
    »Wo hast du den denn her?«
    Ronans Finger bildeten einen schützenden Käfig um die Brust des Raben. Er wirkte wie ein Spielzeug in seinen Händen. »Hab ihn gefunden.«
    »Pennys findet man«, erwiderte Gansey. »Oder Autoschlüssel. Oder vierblättrige Kleeblätter.«
    »Oder Raben«, sagte Ronan. »Du bist bloß neidisch, weil« – hier musste er kurz innehalten, um seine Gedanken, die träge vom Bier waren, zu ordnen – »weil du selbst keinen gefunden hast.«
    In diesem Moment machte der Vogel einen kleinen Haufen zwischen Ronans Finger hindurch auf die Bank neben ihm. Das Tier in einer Hand, benutzte Ronan einen Gemeindebrief, um das Holz wieder einigermaßen sauber zu kratzen. Anschließend hielt er das verdreckte Stück Papier Gansey hin. Die Fürbitten waren weiß verschmiert.
    Gansey nahm den Gemeindebrief nur, weil er befürchtete, dass Ronan sich sonst nicht die Mühe machen würde, nach einem Mülleimer zu suchen. Ziemlich angewidert fragte er: »Und was ist, wenn ich eine Anti-Haustier-Regel für das Monmouth aufstelle?«
    »Verdammt, Mann«, sagte Ronan und zeigte sein

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