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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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gefiltert durch die Klimaanlage im Nino strömte, nicht einmal dieselbe Substanz.
    Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen hoch. Hier, am Rand des Stadtzentrums, gab es nicht mehr genug Straßenlaternen, um sie komplett zu überstrahlen. Großer Bär, Löwe, Kepheus. Mit jedem vertrauten Sternbild, das sie entdeckte, ging ihr Atem leichter und ruhiger.
    Als sie ihr Fahrrad losschloss, fühlte sich die Kette eiskalt an. Über den Parkplatz drangen gedämpfte Stimmen herüber, mal leiser, mal lauter. Irgendwo dicht hinter ihr erklangen Schritte auf dem Asphalt. Selbst wenn sie sich Mühe gaben, waren Menschen noch immer die lautesten Tiere, die es gab.
    Eines Tages würde sie an einem Ort leben, wo sie vor ihrem Haus stehen und nur Sterne sehen konnte, keine Straßenlaternen. Wo sie sich den Fähigkeiten ihrer Mutter so nahe fühlen würde wie nur möglich. Immer wenn sie die Sterne betrachtete, schien etwas an ihrem Geist zu zupfen, etwas, das sie drängte, dort mehr als nur Sterne zu sehen, Logik in das Chaos des Firmaments zu bringen, ein größeres Bild daraus zu formen. Doch diese Logik erschloss sich ihr nie. Sie sah immer nur den Löwen und Kepheus, den Skorpion und den Drachen. Möglicherweise brauchte sie einfach nur mehr Horizont und weniger Stadt. Andererseits wollte sie eigentlich gar nicht in die Zukunft blicken. Sondern etwas sehen, das niemand anders sehen konnte oder wollte, und vielleicht forderte sie damit mehr Magie ein, als es auf der Welt gab.
    »Entschuldigung, du, äh … hallo.«
    Die Stimme war männlich, zögernd, und der Sprecher stammte aus der Gegend: Die Vokale klangen, als wären alle scharfen Kanten glatt geschliffen worden. Mit mäßig freundlicher Miene drehte Blue sich um.
    Zu ihrer Überraschung war es der elegante Junge, dessen Gesicht im Licht der fernen Straßenlaterne hagerer und älter wirkte. Er war allein. Von Präsident Multitasking, dem Schmuddeltypen und ihrem feindseligen Freund war nichts zu sehen. Mit einer Hand hielt er sein Fahrrad fest. Die andere hatte er in die Tasche gesteckt. Seine unsichere Haltung passte nicht recht zu dem Rabenemblem auf seiner Brust und ihr Blick fiel auf eine ausgefranste Naht an seiner Schulter, bevor er sie bis zu seinem Ohr hochzog, als sei ihm kalt.
    »Hi«, sagte Blue, sanfter als wenn sie die Naht nicht bemerkt hätte. Ein Aglionby-Junge, der von anderen abgelegte Pullover auftrug, war ihr noch nicht begegnet. »Adam, stimmt’s?«
    Abruptes, verschämtes Nicken. Blue musterte sein Fahrrad. Ein Aglionby-Junge, der Fahrrad fuhr statt Auto, war ihr auch noch nicht begegnet.
    »Ich wollte gerade nach Hause«, erklärte Adam. »Und da dachte ich, ich hätte dich erkannt. Ich wollte mich entschuldigen. Wegen der Sache von vorhin. Ich habe ihn nicht darum gebeten und ich wollte nur, dass du das weißt.«
    Blue entging nicht, dass seine Stimme mit dem leichten Akzent genauso angenehm war wie sein Äußeres. Sie erinnerte sie an einen Sonnenuntergang in Henrietta: eine warme Schaukel auf der Veranda, ein kaltes Glas Eistee, Grillen, die mit ihrem Gezirp alle Gedanken übertönten. Ein Auto kam eine nahe Seitenstraße herunter und er warf einen Blick über die Schulter. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, lag noch immer ein wachsamer Ausdruck auf seinem Gesicht und in Blue regte sich die Vermutung, dass dieser Ausdruck – eine senkrechte Falte zwischen den Brauen, der Mund angespannt – sein gewohnter war. Er passte perfekt zu seinen Zügen, fügte sich in jede Linie seiner Lippen und seiner Augen ein. »Dieser Aglionby-Junge ist nicht oft glücklich«, dachte sie.
    »Das ist nett von dir«, sagte sie. »Aber du bist nicht derjenige, der sich entschuldigen müsste.«
    Adam erwiderte: »Ich kann ihm auch nicht die ganze Schuld zuschieben. Schließlich hatte er recht. Ich wollte dich wirklich gern kennenlernen. Aber ich wollte dich nicht einfach so … anmachen.«
    Das wäre vermutlich der richtige Moment gewesen, um ihm eine Abfuhr zu erteilen. Doch die Erinnerung daran, wie er am Tisch errötet war, nahm ihr den Wind aus den Segeln; sein ehrliches Gesicht, sein Lächeln, das so unsicher wirkte, als probierte er es zum ersten Mal aus. Sein Gesicht war gerade eigentümlich genug, dass sie es gern weiter ansehen wollte.
    Tatsache war, dass sie noch niemals von irgendwem angeflirtet worden war, bei dem sie sich wünschte, dass er Erfolg hatte.
    »Tu’s nicht!«, warnte die Stimme in ihr.
    Aber Blue fragte: »Und was wolltest

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