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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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schlechtes Gewissen, so etwas von Adam zu verlangen.
    Draußen schrie ein Nachtvogel, hoch und schrill. Der kleine Nachbau von Henrietta wirkte unheimlich im Halbdunkel, die Spielzeugautos auf den Straßen schienen gerade erst zum Stillstand gekommen zu sein. Gansey hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass zu dieser Zeit alles möglich war. Bei Nacht war Henrietta wie von Magie durchströmt und bei Nacht schien Magie etwas Schreckliches zu sein.
    »Ich gehe im Park nachsehen«, flüsterte Adam schließlich. »Und, äh, am besten auch an der Brücke.«
    Adam legte so geräuschlos auf, dass Gansey erst einen Augenblick später begriff, dass die Verbindung getrennt worden war. Er presste sich die Fingerspitzen auf die Augen, und so fand ihn schließlich Noah.
    »Du gehst ihn suchen?«, fragte Noah. Im gelben, spätnächtlichen Licht des Zimmers hinter ihm wirkte er blass und substanzlos; die Ringe unter seinen Augen waren dunkler als alles andere. Er sah weniger aus wie Noah als vielmehr wie eine bloße Andeutung seiner selbst. »Versuch’s in der Kirche.«
    Noah bot nicht an mitzukommen und Gansey bat ihn auch nicht darum. Vor sechs Monaten, das einzige Mal, als es wirklich wichtig gewesen war, hatte Noah Ronan in einer introspektiven Pfütze seines eigenen Blutes gefunden und war somit davon befreit, ihn je wieder suchen zu müssen. Noah war danach nicht mit Gansey zum Krankenhaus gefahren und Adam war zu Hause beim Rausschleichen erwischt worden, also war nur Gansey bei Ronan gewesen, als sie ihn wieder zusammengeflickt hatten. Das war schon lange her, gleichzeitig aber kam es ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen.
    Manchmal hatte Gansey das Gefühl, sein Leben bestünde aus nichts als einem Dutzend Stunden, die er nicht vergessen konnte.
    Er schlüpfte in seine Jacke und trat nach draußen ins grünliche Licht des frostigen Parkplatzes. Die Motorhaube von Ronans BMW war kalt, also war er in der letzten Zeit nicht bewegt worden. Wo immer Ronan auch sein mochte, er schien zu Fuß gegangen zu sein. Die Kirche war in Laufnähe, ihr Turm von dämmrig gelben Strahlern erhellt. Und das Nino. Und die alte Brücke mit dem reißenden Bach darunter.
    Er lief los. Sein Kopf versuchte, logisch zu denken, doch sein verräterisches Herz stotterte sich von Schlag zu Schlag. Er war nicht naiv, er gab sich nicht der Illusion hin, jemals den Ronan Lynch wiederzufinden, den er vor Nialls Tod gekannt hatte. Aber er wollte auch nicht den Ronan Lynch, den er jetzt hatte, verlieren.
    Trotz des hellen Mondscheins lag der Eingang der St.-Agnes-Kirche in völliger Dunkelheit. Leicht zitternd legte Gansey die Hand um den großen Eisenring, mit dem sich die Tür aufziehen ließ, unsicher, ob sie nicht verschlossen sein würde. Er war erst ein Mal zuvor in dieser Kirche gewesen, an Ostern, weil Ronans jüngerer Bruder Matthew sie alle gebeten hatte zu kommen. Er wäre nicht unbedingt auf die Idee gekommen, dass Ronan mitten in der Nacht an einem Ort wie diesem auftauchen würde, allerdings hätte er Ronan auch generell nicht für einen Kirchgänger gehalten. Und doch kamen die Lynch-Brüder jeden Sonntag her. Hier gelang es ihnen eine Stunde lang, nebeneinander auf der Bank zu sitzen, obwohl sie sich sonst nicht mal über einen Restauranttisch hinweg in die Augen sehen konnten.
    Während er durch den schwarzen Türbogen trat, dachte Gansey: »Noah ist gut darin, Dinge zu finden.« Und er hoffte, dass er auch diesmal richtiglag.
    Die Kirche umfing Gansey mit ihrem Weihrauchgeruch, eine kleine Enklave eines so seltenen Dufts, dass dieser unvermittelt ein halbes Dutzend Erinnerungen an Familienbegräbnisse, Hochzeiten und Taufen in ihm wachrief, die ausnahmslos im Sommer stattgefunden hatten. Wie seltsam, dass ein einziger Hauch abgestandener Luft eine ganze Jahreszeit heraufbeschwören konnte.
    »Ronan?« Das Wort schien direkt von seinen Lippen in den leeren Raum gesaugt zu werden. Es hallte von der Decke wider, die so weit über ihm lag, dass sie nicht zu sehen war, und so war es am Ende nur seine eigene Stimme, die ihm antwortete.
    Das gedämpfte Licht im Mittelgang war von den spitzen Schatten der darüberliegenden Bögen durchsetzt. Die Dunkelheit und seine Verunsicherung pressten Ganseys Rippen auf Faustgröße zusammen, seine atemlosen Lungen ließen ihn an einen weiteren, lange vergangenen Sommertag denken, den Nachmittag, an dem ihm zum ersten Mal klar geworden war, dass es tatsächlich so etwas wie Magie auf der Welt gab.
    Und da

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