Wen der Rabe ruft (German Edition)
und überraschte sie alle mit der Inbrunst seiner Antwort. »Aber wie lange dauert es noch? Werde ich es jemals finden?«
Die drei Frauen beugten sich wieder über die Karten und suchten nach einer Antwort auf seine Frage. Auch Blue betrachtete sie. Sie mochte zwar nicht die Fähigkeit besitzen, die Karten zu interpretieren, aber was sie bedeuteten, wusste sie allemal. Ihre Aufmerksamkeit wanderte vom »Turm«, der für eine dramatische Wendung im Leben des Mannes stand, zur letzten Karte des Blatts, dem »Buben der Kelche«. Blue sah ihre Mutter an, die die Stirn runzelte. Der »Bube der Kelche« war nicht direkt eine negative Karte, tatsächlich war es sogar diejenige, von der Maura immer sagte, sie repräsentiere Blue, wenn sie sich selbst die Karten legte.
»Du bist der ›Bube der Kelche‹«, hatte Maura ihr einmal gesagt. »Sieh nur, all das Potenzial, das er in seinem Kelch trägt. Und er sieht dir sogar ein bisschen ähnlich.«
Und wieder lag dort nicht nur ein »Bube der Kelche«. Wie die »Ritter der Münzen« traten sie zu dritt auf. Drei junge Menschen, die ihnen Kelche voller Potenzial entgegenstreckten, und alle trugen Blues Züge. Mauras Gesicht war finster, unglaublich finster.
Blues Haut kribbelte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in unzählige Schicksale verstrickt zu sein. Gansey, Adam, dieser unsichtbare Ort in Neeves Wahrsage-Schüssel, dieser fremde Mann, der neben ihr saß. Ihr Puls raste.
Maura stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl rückwärts gegen die Wand kippte.
»Die Sitzung ist beendet«, blaffte sie.
Persephone sah verblüfft zu ihr hoch und auch Calla wirkte verwirrt, wenn auch gleichzeitig hoch entzückt über die plötzliche Spannung im Raum. Blue erkannte ihre Mutter gar nicht wieder.
»Wie bitte?«, fragte der Mann. »Aber die anderen Karten …«
»Sie haben es doch gehört«, schnitt Calla ihm giftig das Wort ab. Blue wusste nicht, ob Calla Mauras Unbehagen teilte oder ihr nur den Rücken stärken wollte. »Die Sitzung ist beendet.«
»Verlassen Sie mein Haus«, sagte Maura und fügte dann in einem offensichtlichen Versuch, doch noch halbwegs höflich zu sein, hinzu: »Jetzt. Danke. Leben Sie wohl.«
Der Mann erhob sich und sagte: »Das ist ja unerhört.«
Maura antwortete nicht. Sobald er aus der Tür war, knallte sie sie hinter ihm zu. Wieder klirrten irgendwo Gläser im Schrank.
Calla war ans Fenster getreten. Sie zog die Vorhänge zurück und lehnte ihre Stirn an die Scheibe, während sie ihm nachsah.
Maura tigerte neben dem Tisch auf und ab. Blue wollte eine Frage stellen, tat es dann aber doch nicht. Hob wieder dazu an. Und tat es dann doch nicht. Es kam ihr nicht richtig vor, etwas zu fragen, wenn es sonst niemand tat.
»Was für ein unangenehmer junger Mann«, urteilte Persephone.
Calla ließ die Vorhänge wieder zufallen. Sie erklärte: »Ich habe mir sein Nummernschild gemerkt.«
»Ich hoffe, er findet niemals, wonach er sucht«, sagte Maura.
Persephone klaubte ihre zwei Karten vom Tisch auf und erwiderte mit leichtem Bedauern: »Er gibt sich wirklich Mühe. Irgendetwas wird er wohl finden.«
Maura wirbelte zu Blue herum. »Blue, wenn du diesen Mann jemals wiedersehen solltest, dreh dich einfach um und geh weg.«
»Nein«, korrigierte Calla. »Verpass ihm einen Tritt in die Eier. Und dann renn weg.«
14
H elen, Ganseys große Schwester, rief genau in dem Moment an, als Gansey die Zufahrt zum Haus der Parrishs erreichte. Pig zu steuern und gleichzeitig ans Telefon zu gehen, war immer ein bisschen kompliziert. Zunächst einmal hatte der Camaro eine Gangschaltung und keine Automatik, zuletzt einmal dröhnte er so laut wie ein Lkw, und dazwischen lag eine Fülle von Steuerproblemen, elektronischen Störungen und schmierigen Schalthebeln. Das Ende vom Lied: Helen war kaum zu verstehen und Gansey fuhr beinahe in den Graben.
»Wann hat Mom Geburtstag?«, fragte Helen. Gansey freute sich, ihre Stimme zu hören, und war gleichzeitig genervt, dass sie ihn mit etwas so Trivialem behelligte. Im Grunde verstand er sich sehr gut mit seiner Schwester – die Gansey-Geschwister waren eine seltene und komplizierte Spezies und einander mussten sie zumindest nicht vormachen, etwas anderes zu sein.
»Du bist die Hochzeitsplanerin von uns beiden«, entgegnete Gansey, während wie aus dem Nichts ein Hund auftauchte, der wild kläffend versuchte, in die Reifen des Camaros zu beißen. »Fallen solche Daten nicht eher in dein Aufgabengebiet?«
»Das bedeutet dann wohl,
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