Wen der Rabe ruft (German Edition)
du weißt es nicht«, erwiderte Helen. »Und außerdem bin ich gar keine Hochzeitsplanerin mehr. Na ja, nur noch in Teilzeit. Okay, Vollzeit. Aber trotzdem nicht jeden Tag.«
Helen musste überhaupt nichts sein. Sie hatte keinen Beruf, sie hatte Hobbys, die sich auf das Leben anderer Leute bezogen.
»Und ob ich das weiß«, sagte er angespannt. »Am zehnten Mai.« Ein Labradormischling, der vor dem ersten Haus der Siedlung angebunden war, jaulte gequält, als er vorbeifuhr.
Der andere Hund rannte noch immer neben dem Wagen her und schnappte nach den Reifen. Sein Knurren wurde, passend zum Motorengeräusch, immer lauter. Drei Jungs in ärmellosen Shirts standen in einem Vorgarten und schossen mit Luftgewehren auf Milchkanister; sie riefen ihm »Hey, Hollywood!« nach und zielten scherzhaft auf Pigs Reifen. Dabei taten sie so, als würden sie sich Handys ans Ohr halten. Gansey fühlte einen eigentümlichen Stich bei ihrem Anblick, ihrer Kameradschaft, ihrer Zusammengehörigkeit; alle drei Dinge ganz und gar Erzeugnisse ihres Umfelds. Er war nicht sicher, ob es Mitleid oder Neid war. Überall lag Staub.
Helen fragte: »Wo bist du? Klingt, als wärst du am Set eines Guy-Ritchie-Films.«
»Unterwegs zu einem Freund.«
»Dem Fiesling oder dem Proletenkind?«
»Helen.«
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich meine natürlich, Käpt’n Frostig oder Wohnwagenboy?«
»Helen.«
Wenn man es genau nahm, lebte Adam nicht in einem Wohnwagen – sondern in zweien. Jedes »Haus« der Siedlung bestand aus einem Doppelwohnwagen. Adam hatte ihm erzählt, dass der letzte einfache Wagen dort schon vor Jahren verschwunden war, aber er hatte es ironisch gesagt, so als wüsste er selbst, dass es nicht viel änderte, wenn die Größe der Behausungen verdoppelt wurde.
»Dad hat viel schlimmere Namen für sie«, verteidigte sich Helen. »Mom hat gesagt, gestern ist eins von deinen komischen New-Age-Büchern hierhergeliefert worden. Heißt das etwa, dass du irgendwann in nächster Zeit mal nach Hause kommst?«
»Kann sein«, antwortete Gansey. Irgendwie führte ihm ein Besuch bei seinen Eltern immer vor Augen, wie wenig er bisher erreicht hatte, wie ähnlich Helen und er sich waren, wie viele rote Krawatten er besaß und wie er langsam, aber sicher zu all dem wurde, das Ronan zu werden fürchtete. Er hielt vor dem hellblauen Wohnwagen der Parrishs. »Vielleicht zu Moms Geburtstag. Ich muss jetzt auflegen. Kann sein, dass es hier gleich ziemlich zur Sache geht.«
Der Handylautsprecher verwandelte Helens Lachen in einen zischenden, stimmlosen Laut. »Jetzt hör sich einer meinen kleinen Bruder an, was für ein knallharter Typ. Ich wette, du hörst gerade eine CD namens ›Kriminal-Sound‹, während du in deinem Camaro vor Gap auf- und abfährst und den Mädchen hinterherpfeifst.«
»Bis dann, Helen«, sagte Gansey, drückte auf AUFLEGEN und stieg aus dem Wagen.
Sofort schwirrten ihm ein paar dicke Holzbienen um den Kopf, kurz abgelenkt von ihrem Unterfangen, die Treppe zu zerstören. Nachdem er geklopft hatte, sah er hinaus über die weite, hässliche Ebene voll abgestorbenen Grases. Der Gedanke, dass man in Henrietta Schönes nur gegen Geld bekam, hätte ihm eigentlich schon früher kommen müssen, aber er ging ihm erst jetzt durch den Kopf. Sooft Adam ihm auch sagte, wie dumm er in Bezug auf Geld war, er wurde anscheinend einfach nicht klüger.
Hier gab es nicht mal Frühling, begriff Gansey und der Gedanke stimmte ihn unerwartet trübsinnig.
Adams Mutter öffnete die Tür. Sie war wie ein Schatten von Adam – dieselben länglichen Gesichtszüge, dieselben weit auseinanderstehenden Augen. Verglichen mit Ganseys eigener Mutter wirkte sie alt und verhärmt.
»Adam ist hinterm Haus«, sagte sie, bevor er irgendetwas fragen konnte. Ihr Blick huschte kurz über ihn hinweg und dann wieder zur Seite. Sie sah ihm nicht in die Augen. Gansey war immer wieder verblüfft über die Art, wie Adams Eltern auf seinen Aglionby-Pullover reagierten. Bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, schienen sie alles über ihn zu wissen, was nötig war.
»Danke«, sagte Gansey, dem das Wort wie Sägemehl am Gaumen kleben blieb. Doch sie war so oder so schon dabei, die Tür zu schließen.
Unter dem alten Carport auf der Rückseite des Hauses fand er schließlich Adam, der, auf den ersten Blick in den kühlen bläulichen Schatten gar nicht zu sehen, unter einem alten, aufgebockten Pontiac Bonneville lag. Eine leere Ölwanne lugte unter dem Wagen hervor
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