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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Kopf, doch Gansey sah, wie sich seine Rückenmuskeln anspannten und zusammenzogen, als hätten sie plötzlich eine schwere Last zu tragen. »Das ist eine ziemlich declanmäßige Frage.«
    Gansey dachte darüber nach. »Nein. Nein, das finde ich nicht.«
    »Die hat doch nur Blödsinn erzählt.«
    Auch darüber dachte Gansey nach. »Nein, das glaube ich nicht.«
    Ronan tastete nach dem MP3-Player neben sich auf dem Bett und drückte auf PAUSE. Als er antwortete, klang seine Stimme ausdruckslos, roh. »Das war einfach eins von diesen Weibern, die sich in deinen Kopf einschleichen und da alles durcheinanderschmeißen. Sie hat das nur gesagt, weil sie wusste, dass ich dadurch Probleme kriegen würde.«
    »Was für welche denn zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel, dass du mir Fragen stellst, die ich von Declan erwarten würde«, sagte Ronan. Er hielt dem Raben einen frischen Bissen graue Substanz hin, doch das Tier glotzte nur starr zu ihm hoch. »Dass ich über Sachen nachdenke, über die ich nicht nachdenken will. Solche Probleme. Unter anderem. Und was soll das da eigentlich in deinem Gesicht?«
    Gansey rieb sich befangen das Kinn. Seine Haut fühlte sich stoppelig an. Er wusste, dass es ein Ablenkungsmanöver war, ging aber trotzdem darauf ein. »Sieht man schon was?«
    »Alter, du lässt dir doch nicht wirklich einen Bart wachsen, oder? Ich dachte, das wäre nur ein Witz gewesen. Du weißt schon, dass das ungefähr seit dem vierzehnten Jahrhundert, oder wann Paul Bunyan noch mal gelebt hat, nicht mehr angesagt ist, oder?« Ronan musterte ihn über die Schulter. Auf seinen eigenen Wangen war der Bartschatten zu sehen, den er offenbar innerhalb von Sekunden erscheinen lassen konnte. »Lass es einfach sein. Du siehst aus wie ein räudiger Köter.«
    »Ist sowieso nicht relevant. Er wächst ja nicht. Ich werde ewig ein Knabe bleiben.«
    »Wenn du mit Wörtern wie ›Knabe‹ anfängst, ist die Unterhaltung beendet«, protestierte Ronan. »Hey, Mann. Lass dich davon bloß nicht runterziehen. Wenn dir erst mal ein anständiges Paar Eier wächst, kommt der Bart von ganz alleine. Dicht wie ein verdammter Teppich. Dann kannst du damit beim Suppeessen die Kartoffeln rausfiltern. Die Leute werden dich mit einem Terrier verwechseln. Hast du eigentlich Haare an den Beinen? Da hab ich nie drauf geachtet.«
    Das würdigte Gansey nicht mal einer Antwort. Seufzend drückte er sich von der Wand ab und zeigte auf den Raben. »Ich gehe wieder ins Bett. Sorg dafür, dass das Vieh den Schnabel hält. Du bist mir echt was schuldig, Lynch.«
    »Ja, ja«, murmelte Ronan.
    Gansey zog sich auf sein Bett zurück, doch er legte sich nicht hin. Stattdessen tastete er nach seinem Notizbuch, aber es war nicht da; er hatte es an dem Abend der Prügelei im Nino vergessen. Er überlegte, Malory anzurufen, aber er wusste nicht, was er ihn fragen sollte. Etwas in ihm fühlte sich an wie die Nacht draußen – hungrig, sehnsüchtig, schwarz. Er dachte an die dunklen Augenhöhlen des Skelettritters auf der Todeskarte.
    Ein Insekt flog summend gegen das Fenster. Es war ein Summen, wie es nur ein Insekt von ziemlich beeindruckender Größe zustande bringen konnte. Er dachte an seine Allergiespritze, die weit weg im Handschuhfach seines Autos lag, zu weit weg, um noch ein nützliches Gegenmittel darzustellen, wenn er eines brauchen würde. Das Insekt war vermutlich nur eine Fliege oder eine Wanze oder wieder mal eine Schnake, aber je länger er hier lag, desto unsicherer wurde er, ob es nicht doch eine Wespe oder Biene sein konnte.
    War es vermutlich nicht.
    Trotzdem öffnete er die Augen. Vorsichtig kletterte Gansey vom Bett und bückte sich nach seinem auf der Seite liegenden Schuh. Dann ging er langsam zum Fenster und lauschte nach dem Insekt. Der Schatten des Teleskops auf dem Boden neben ihm erinnerte an ein überaus graziles Monster.
    Obwohl das Summen verstummt war, brauchte er nur einen kurzen Moment, um das Insekt zu entdecken: eine Wespe. Sie krabbelte den schmalen Holzrahmen des Fensters hinauf und schwenkte dabei immer mal wieder zurück und wieder nach vorn. Gansey rührte sich nicht. Er sah zu, wie sie kletterte und innehielt, kletterte und innehielt. Die Straßenlaternen draußen versahen ihre Beine, ihren gekrümmten Körper, die feine, unauffällige Spitze ihres Stachels mit schwachen Schatten.
    In seinem Kopf liefen zwei Geschichten zugleich ab. Eine beschrieb das, was wirklich geschah: Die Wespe kletterte am Holz empor und scherte sich nicht um

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