Wen der Rabe ruft (German Edition)
Baumstamm. Blue blieb zögernd an der Tür stehen und versuchte, den flackernden Schein zu identifizieren, der um die blassgraue Rinde zuckte. Eine Hand an die Hauswand gelegt, die noch warm von der Hitze des Tages war, beugte Blue sich vor. Von hier aus sah sie eine Kerze auf der anderen Seite der Buche, die von den nackten, überirdischen Wurzeln des Baumes eingerahmt war. Die zitternde Flamme verschwand, wurde länger und verschwand dann wieder.
Blue machte einen Schritt von der rissigen Klinkerterrasse, dann noch einen, und blickte sich zum Haus um, als könnte jemand sie beobachten. Wessen Licht war das? Ein Stück von der Kerze entfernt hatte sich in einer kleinen Mulde zwischen den samtigen Wurzelsträngen eine Pfütze schwarzen Wassers gesammelt. Das Wasser spiegelte die züngelnde Flamme, als brannte unter der dunklen Oberfläche eine zweite Kerze.
Blue hielt die Luft an und trat noch einen Schritt vor.
Mit einem weiten Pullover und einem Crinkle-Rock bekleidet, kniete Neeve neben der Kerze und der kleinen Wurzelpfütze. Die schönen Hände im Schoß gefaltet, wirkte sie so reglos wie der Baum selbst und so dunkel wie der Himmel über ihr.
Blue stieß hörbar den Atem aus, als sie Neeve sah, und dann noch einmal, als ihre überraschten Augen Neeves kaum sichtbares Gesicht erspähten.
»Oh«, hauchte Blue. »Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
Doch Neeve gab keine Antwort. Als Blue genauer hinsah, erkannte sie, wie abwesend ihr Blick war. Doch es waren ihre Augenbrauen, die Blue am meisten erschreckten: Sie zeigten keinerlei Ausdruck. Diese formlosen Brauen, zwei geraden, neutralen Linien gleich, die darauf warteten, beschrieben zu werden, wirkten noch leerer als Neeves Blick.
Blues erster Gedanke war, dass es sich um einen medizinischen Notfall handeln musste – Gab es nicht irgendeine Art von Anfällen, bei denen man einfach nur apathisch herumsaß? Wie nannte man die noch mal? –, dann aber fiel ihr die Schüssel Cranberry-Traubensaft auf dem Küchentisch wieder ein. Wahrscheinlicher war es, dass sie Neeve beim Meditieren oder etwas Ähnlichem unterbrochen hatte.
Allerdings wirkte das Ganze nicht unbedingt wie eine Meditation. Sondern mehr wie … ein Ritual. Ihre Mutter führte keine Rituale durch. Einmal hatte Maura hitzig zu einem Kunden gesagt: »Ich bin keine Hexe.« Und einmal, unglücklich, zu Persephone: »Ich bin keine Hexe.« Aber vielleicht war Neeve ja eine. Blue hatte keine Ahnung, welche Regeln in einer solchen Situation galten.
»Wer ist da?«, fragte Neeve.
Doch das war nicht Neeves Stimme. Es war etwas Tieferes, weit Entferntes.
Ein unangenehmer Schauer kroch Blues Arme hinauf. Irgendwo oben im Baum fauchte ein Vogel. Zumindest glaubte Blue, dass es ein Vogel war.
»Komm ins Licht«, forderte Neeve sie auf.
Das Wasser zwischen den Wurzeln bewegte sich, oder vielleicht war es auch nur die Reflexion der einsamen Kerze. Als Blue sich weiter umsah, erkannte sie, dass rund um die Buche ein fünfzackiger Stern markiert war. Eine seiner Spitzen bildete die Kerze, eine weitere die dunkle Pfütze. Eine nicht angezündete Kerze stellte die dritte Spitze dar und eine leere Schüssel die vierte. Zuerst dachte Blue, sie hätte sich geirrt und es wäre gar kein fünfzackiger Stern. Dann begriff sie: Neeve selbst war die letzte Spitze.
»Ich weiß, dass du da bist«, sagte Nicht-Neeve mit dieser Stimme, die nach Finsternis fernab von jeglichem Sonnenlicht klang. »Ich kann dich riechen.«
Etwas kroch Blue ganz langsam den Nacken hinauf, auf der Innenseite ihrer Haut. Es fühlte sich so grässlich real an, dass sie versucht war, danach zu schlagen oder sich zu kratzen.
Am liebsten wäre sie wieder hineingegangen und hätte so getan, als wäre sie nie nach draußen gekommen, doch gleichzeitig wollte sie Neeve nicht allein zurücklassen, falls … Blue wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, aber sie tat es.
Sie wollte Neeve nicht allein zurücklassen, falls irgendetwas von ihr Besitz ergriffen hatte.
»Ich bin hier«, sagte Blue.
Die Kerzenflamme streckte sich und wurde sehr, sehr lang.
Nicht-Neeve fragte: »Wie heißt du?«
Blue bemerkte, dass sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob Neeves Mund sich beim Sprechen bewegte. Es war schwer, ihr ins Gesicht zu sehen.
»Neeve«, log Blue.
»Komm näher, damit ich dich sehen kann.«
Da war definitiv etwas in der kleinen schwarzen Pfütze. Das Wasser spiegelte Farben wider, die in der Kerze gar nicht zu sehen
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