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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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seine Anwesenheit. Die andere schilderte ein falsches Bild, eine Möglichkeit: Die Wespe schwirrte durch die Luft, ließ sich auf Ganseys Haut nieder und grub ihren Stachel hinein, der durch Ganseys Allergie zu einer tödlichen Waffe wurde.
    Vor langer Zeit einmal hatte sich ein Schwarm Hornissen über seine Haut gesenkt, mit den Flügeln schlagend, nachdem sein Herz längst damit aufgehört hatte.
    Seine Kehle fühlte sich plötzlich eng an.
    »Gansey?«
    Ronans Stimme ertönte dicht hinter ihm, ihr Klang fremd und zuerst nicht wiederzuerkennen. Gansey drehte sich nicht um. Die Wespe hatte gerade mit den Flügeln gezuckt, wollte vielleicht abheben.
    »Scheiße, Mann!«, stieß Ronan hervor. Drei Schritte, dicht nacheinander, der Boden knackte laut wie ein Gewehrschuss, dann wurde Gansey der Schuh aus der Hand gerissen. Ronan schubste ihn zur Seite und donnerte den Schuh so hart auf das Fenster nieder, dass die Scheibe eigentlich hätte bersten müssen. Nachdem der trockene Körper der Wespe auf die Dielen gefallen war, suchte Ronan ihn in der Dunkelheit und schlug noch einmal darauf.
    »Scheiße«, wiederholte er dann. »Bist du bescheuert?«
    Gansey konnte das Gefühl nicht beschreiben, den Tod nur Zentimeter von sich entfernt herumkrabbeln zu sehen, oder das Wissen, sich innerhalb von Sekunden von »vielversprechender Schüler« in »nicht mehr zu retten« verwandeln zu können. Er drehte sich zu Ronan um, der die Wespe mittlerweile sorgfältig bei einem ihrer gebrochenen Flügel aufgehoben hatte, damit Gansey nicht darauftrat.
    »Was wolltest du denn?«, fragte er.
    »Was?«, entgegnete Ronan.
    »Du bist doch gekommen, weil du irgendwas wolltest.«
    Ronan warf den winzigen Wespenkadaver in den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Dieser quoll jedoch schon über vor zusammengeknülltem Papier, sodass die Wespe wieder herausfiel und ihm nichts anderes übrig blieb, als eine geeignetere Nische zwischen den Blättern für sie zu suchen. »Hab ich total vergessen.«
    Gansey stand bloß da und wartete darauf, dass Ronan dem etwas hinzufügte. Ronan jedoch beschäftigte sich noch ein paar Augenblicke mit der Wespe, und als es schließlich so weit war, sah er Gansey nicht an. »Was ist das für eine Geschichte mit dir und Parrish? Ihr wollt hier abhauen?«
    Das hatte Gansey nicht erwartet. Er war nicht sicher, was er antworten sollte, ohne Ronan zu verletzen. Anlügen konnte er ihn nicht.
    »Sag du mir, was du gehört hast, und ich sage dir, was davon stimmt.«
    »Noah hat behauptet«, sagte Ronan, »wenn du von hier verschwindest, würdest du Parrish mitnehmen.«
    Er hatte zugelassen, dass sich ein Hauch von Eifersucht in seine Stimme stahl, und darum fiel Ganseys Antwort kühler aus. Er gab sich wirklich Mühe, niemanden zu bevorzugen. »Und was hatte Noah sonst noch zu sagen?«
    Mit sichtlicher Anstrengung riss Ronan sich zusammen, ordnete sich. Keiner der Lynch-Brüder vermittelte gern den Eindruck, als seien seine Handlungen nicht hundertprozentig beabsichtigt, auch wenn sie das dann oft beabsichtigt grausam erscheinen ließ. Statt zu antworten, fragte er: »Du willst also nicht, dass ich mitkomme?«
    Es war, als hätte sich etwas in Ganseys Brust verklemmt. »Ich würde euch alle überallhin mitnehmen.«
    Der Mondschein verwandelte Ronans Gesicht in eine sonderbare Skulptur, ein schonungsloses, unvollendetes Porträt, dessen Schöpfer vergessen hatte, seinem Werk Mitgefühl hinzuzufügen. Ronan holte Luft, seine typische Raucheratmung: heftig ein durch die Nase, langsam aus durch die Barriere seiner Zähne.
    Nach einer Pause sagte er: »Gestern Nacht. Da ist was …«
    Dann hielt er inne, ohne noch etwas anderes zu sagen. Es war, als hätte er einen Punkt von der Art gesetzt, wie Gansey ihn mit Geheimnissen und schlechtem Gewissen assoziierte. Einen Punkt, der entstand, wenn man sich vorgenommen hatte, etwas zu gestehen, die Zunge einen am Ende aber doch im Stich ließ.
    »Was ist da, Ronan?«
    Er sagte: »Ach, die Sache mit Chainsaw und dann diese Wahrsagerin und, ich weiß auch nicht, Noah. Ich habe einfach das Gefühl, hier geht irgendetwas Seltsames vor sich.«
    Gansey konnte die Verärgerung in seiner Stimme nicht verbergen. »›Seltsam‹ hilft mir nicht weiter. Ich weiß nicht, was ›seltsam‹ heißen soll.«
    »Keine Ahnung, Mann, klingt für mich ja genauso verrückt. Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich meine seltsam wie deine Stimme auf der Aufzeichnung«, antwortete Ronan. »Seltsam wie die

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