Wen der Rabe ruft (German Edition)
verunsicherter als nach Blues Tirade im Restaurant. »In Ordnung. Nein, nein, machen Sie sich keine Mühe. Wir finden schon raus.«
Und das taten sie dann auch, nachdem Adam Blue einen letzten Blick zugeworfen hatte, den zu deuten ihr schwerfiel. Ein paar Sekunden später heulte der Motor des Camaros ohrenbetäubend auf und seine Reifen kreischten Ganseys wahre Gefühle heraus. Das Haus blieb still zurück. Es war eine leere, wie ausgesaugte Stille, als hätten die Raven Boys alle Geräusche aus der Umgebung mit sich genommen.
Blue wirbelte zu ihrer Mutter herum. »Mom.« Sie wollte noch mehr sagen, doch alles, was sie herausbrachte, lauter diesmal, war ein weiteres »Mom!«
»Maura«, sagte Calla, »das war sehr unhöflich.« Und fügte dann hinzu: »Find ich gut.«
Maura wandte sich Blue zu, als hätte Calla gar nichts gesagt. »Ich will nicht, dass du ihn wiedersiehst.«
Empört rief Blue: »Ach, ich dachte, Kinder soll man nicht herumkommandieren?«
»Das war vor Gansey.« Maura drehte die Todeskarte um und gewährte Blue einen langen Blick auf den Schädel unter dem Helm. »Das hier ist genauso, als würde ich dir sagen, du darfst nicht vor einen Bus laufen.«
Blue flatterten verschiedene Antworten durch den Kopf, bis sie sich für die entschied, die sie wirklich geben wollte. »Wieso? Neeve hat doch nicht mich auf dem Leichenweg gesehen. Ich bin nicht diejenige, die in einem Jahr tot ist.«
»Erstens einmal ist der Leichenweg nur ein Versprechen und keine Garantie«, sagte Maura. »Und zweitens gibt es noch viel mehr schreckliche Schicksale als den Tod. Müssen wir etwa über den Verlust von Gliedmaßen diskutieren? Über Lähmungen? Nicht enden wollende psychische Traumata? Mit diesen Jungs stimmt irgendetwas ganz und gar nicht. Und wenn deine Mutter dir sagt, dass du nicht vor einen Bus laufen sollst, dann hat sie wohl allen Grund dazu.«
Aus der Küche erklang Persephones sanfte Stimme: »Wenn jemand dich davon abgehalten hätte, vor einen Bus zu laufen, Maura, dann wäre Blue jetzt nicht hier.«
Maura warf einen finsteren Blick in Persephones Richtung und wischte mit der flachen Hand über den Tisch, als wollte sie ihn von Krümeln befreien. »Im allerbesten Fall freundest du dich mit einem Jungen an, der sterben wird.«
»Aha«, sagte Calla und es klang sehr wissend. »Jetzt verstehe ich.«
»Hör auf, mich zu analysieren«, wehrte ihre Mutter ab.
»Bin schon fertig. Und ich wiederhole: ›Aha.‹«
Maura zog eine für sie untypische höhnische Grimasse und fragte Calla: »Was hast du gesehen, als du den anderen Jungen berührt hast? Den mit dem Raben?«
»Die haben doch alle Raben auf ihren Pullis«, sagte Blue.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, bei ihm ist es mehr als das.«
Calla rieb die Fingerspitzen aneinander, als wollte sie die Erinnerung an Ronans Tätowierung fortwischen. »Es war wie eine Vision von diesem anderen Ort. Er strahlt so viel aus, das dürfte es gar nicht geben. Weißt du noch, als diese schwangere Frau hier war, die Vierlinge erwartete? So ungefähr war es, nur schlimmer.«
»Er ist schwanger?«, witzelte Blue.
»Er erschafft Dinge«, antwortete Calla. »Genauso wie dieser fremde Ort. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll.«
Blue fragte sich, was genau sie mit »erschaffen« meinte. Sie selbst erschuf ja auch ständig irgendetwas, wenn man so wollte – indem sie alte Sachen nahm, sie auseinanderschnitt und daraus etwas Besseres machte. Indem sie Sachen nahm, die bereits existierten, und sie in etwas anderes verwandelte. Das war, wie sie glaubte, was die meisten Menschen meinten, wenn sie sagten, jemand sei schöpferisch tätig.
Aber sie hatte den Verdacht, dass Calla es nicht so meinte. Sie hatte den Verdacht, dass Calla »erschaffen« in seinem eigentlichen Sinn meinte: etwas hervorzubringen, das vorher nicht da war.
Maura sah den Ausdruck auf Blues Gesicht und sagte: »Ich habe dir noch nie irgendetwas vorgeschrieben, Blue. Aber jetzt tue ich es. Halte dich von ihnen fern.«
16
I n der Nacht nach der Sitzung wurde Gansey von einem absolut fremdartigen Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Hastig tastete er nach seiner Brille. Es klang, als würde einer seiner Mitbewohner gerade von einem Opossum ermordet, oder wie das Finale eines bitterernsten Katzenkampfes. Genauer konnte er das Geräusch nicht einordnen, aber es musste um Leben oder Tod gehen.
Noah stand mit leidgeprüftem Blick in seiner Zimmertür. »Mach, dass es aufhört«, sagte
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