Wen der Rabe ruft (German Edition)
er.
Ronans Zimmer war Sperrgebiet und doch öffnete Gansey nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche seine Tür. Sein Blick fiel auf die eingeschaltete Lampe und Ronan, der nur mit Boxershorts bekleidet auf seinem Bett hockte. Erst sechs Monate zuvor hatte Ronan sich die verschlungene schwarze Tätowierung stechen lassen, die den Großteil seines Rückens bedeckte und sich seinen Nacken hinaufschlängelte. Die monochromen Linien wurden nun vom klaustrophobischen Licht der Lampe hervorgehoben und erschienen realer als alles andere im Raum. Es war eine eigenartige Tätowierung, feindselig und ästhetisch zugleich, und jedes Mal wenn Gansey sie zu Gesicht bekam, glaubte er, etwas anderes in dem Muster zu erkennen. Heute sah er, verborgen in einem tiefschwarzen Gewirr aus bösartigen, wunderschönen Blumen, einen Schnabel, wo er zuvor immer eine Sense ausgemacht hatte.
Wieder durchschnitt der schrille Laut das Apartment.
»Was zum Teufel ist jetzt wieder los?«, erkundigte sich Gansey freundlich. Wie gewöhnlich trug sein Freund Kopfhörer, also musste Gansey sich vorbeugen, um sie herunterzuziehen. Musik plärrte blechern aus den Hörern, die nun um Ronans Hals lagen.
Ronan hob den Kopf, wodurch sich die bösartigen Blumen auf seinem Rücken verschoben und hinter seinen spitzen Schulterblättern verschwanden. In seinem Schoß lag der halbfertige Rabe, den Kopf zurückgelegt, den Schnabel weit geöffnet.
»Ich dachte, wir wären uns darüber einig, was eine geschlossene Tür bedeutet«, sagte Ronan. In der Hand hielt er eine Pinzette.
»Ich dachte, wir wären uns darüber einig, dass die Nacht zum Schlafen da ist.«
Ronan zuckte mit den Schultern. »Für dich vielleicht.«
»Tja, heute jedenfalls nicht. Dein Flugsaurier da hat mich geweckt. Warum macht das Vieh so einen Lärm?«
Wie zur Antwort griff Ronan mit der Pinzette in ein Plastiktütchen auf der Decke vor ihm. Gansey war nicht sicher, ob er wissen wollte, was die graue Substanz zwischen den beiden Spitzen war. Sobald der Rabe die Tüte rascheln hörte, stieß er wieder diesen grässlichen Laut aus – ein heiseres Quieken, das sich in ein Gurgeln verwandelte, als er das Dargebrachte hinunterschlang. Gansey verspürte Mitgefühl und einen Würgereiz zugleich.
»Na ja, auf jeden Fall geht das so nicht«, sagte er. »Du musst irgendwie dafür sorgen, dass es aufhört.«
»Sie muss gefüttert werden«, erwiderte Ronan. Der Rabe schlürfte einen weiteren Bissen hinunter, was sich diesmal stark danach anhörte, als würde jemand Kartoffelsalat mit dem Staubsauger aufsaugen. »Es muss auch nur in den ersten sechs Wochen alle zwei Stunden sein.«
»Kannst du sie nicht unten lassen?«
Ronan hielt ihm den kleinen Vogel hin. »Sag du’s mir.«
Gansey mochte es nicht, wenn man an seine Güte appellierte, insbesondere, wenn diese im Widerstreit mit seinem Schlafbedürfnis stand. Natürlich konnte er den Raben nicht nach unten verbannen, dieses winzige, abwegige Etwas. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er die Kreatur nun extrem niedlich oder abstoßend hässlich finden sollte, und irgendwie störte es ihn, dass es ihr anscheinend gelang, beides gleichzeitig zu sein.
Hinter ihm klagte Noah: »Ich will dieses Ding nicht hierhaben. Es erinnert mich an …«
Wie so oft brach er mitten im Satz ab. Ronan deutete mit der Pinzette auf ihn. »Hey, Mann. Raus aus meinem Zimmer.«
»Klappe«, fuhr Gansey die beiden an. »Und das gilt auch für dich, Vogelvieh.«
»Chainsaw.«
Noah zog sich zurück, Gansey jedoch blieb, wo er war. Er sah noch einige Minuten zu, wie der Rabe grauen Schleim hinunterschlang, während Ronan zärtlich auf ihn einredete. Das war nicht der Ronan, an den Gansey sich mittlerweile gewöhnt hatte, aber auch nicht der Ronan, den er früher gekannt hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Instrument, das aus den Kopfhörern plärrte, ein irischer Dudelsack war. Obwohl er sein Gedächtnis fast gewaltsam bemühte, konnte Gansey sich nicht erinnern, wann Ronan zuletzt keltische Musik gehört hatte. Niall Lynchs Musik. Mit einem Mal vermisste auch er Ronans charismatischen Vater. Aber mehr noch vermisste er den Ronan aus der Zeit, als Niall Lynch noch am Leben gewesen war. Der Junge, der jetzt vor ihm saß, das zerbrechliche Vögelchen in den Händen, kam ihm vor wie ein unzureichender Kompromiss.
Nach einer Weile fragte Gansey: »Was hat diese Wahrsagerin heute gemeint, Ronan? Mit dem, was sie über deinen Vater gesagt hat.«
Ronan hob nicht den
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