Wen der Rabe ruft (German Edition)
dem schmalen Grat zwischen »höflich« und »Ronan« bewegte.
»Tatsächlich bin ich hier, weil ich gehofft hatte, dass Sie mir eine Frage über Energie beantworten können«, fuhr Gansey fort. »Ich weiß, Sie beschäftigen sich viel mit Energie, und ich suche jetzt schon länger nach einer Ley-Linie, von der ich glaube, dass sie sich in der Nähe von Henrietta befindet. Wissen Sie irgendetwas darüber?«
Das Notizbuch!
»Eine Ley-Linie?«, wiederholte Maura. »Möglicherweise. Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Bezeichnung etwas anfangen kann. Was ist das?«
Blue war ein wenig schockiert. Sie hatte ihre Mutter immer für den wahrheitsliebendsten Menschen gehalten, den sie kannte.
»Das sind schnurgerade Energielinien, die kreuz und quer über den ganzen Globus verlaufen«, erklärte Gansey. »Angeblich verbinden sie wichtige spirituelle Orte. Adam dachte, Sie kennen sich vielleicht damit aus, weil Energie sozusagen zu Ihrem Beruf gehört.«
Es war offensichtlich, dass er den Leichenweg meinte, aber Maura gab keine Informationen heraus. Sie presste lediglich die Lippen aufeinander und sah erst Persephone, dann Calla an. »Kommt euch das irgendwie bekannt vor?«
Persephone hob den Zeigefinger und sagte: »Ich habe meinen Kuchenteig ganz vergessen.«
Und damit zog sie sich zurück. Calla sagte: »Darüber müsste ich erst nachdenken. In konkreten Dingen bin ich nicht gut.«
Auf Ganseys Lippen lag ein schwaches, amüsiertes Lächeln – er wusste genau, dass sie ihn anlogen. Sein Gesicht hatte etwas seltsam Weises an sich und wieder dachte Blue, dass er älter wirkte als die anderen beiden.
»Ich werde mich damit befassen«, beschied ihm Maura. »Wenn du mir deine Telefonnummer aufschreibst, rufe ich dich an, sobald ich mehr herausgefunden habe.«
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Gansey mit kühler Höflichkeit. »Was bin ich Ihnen für die Sitzung schuldig?«
Maura stand auf und sagte: »Ach, zwanzig Dollar.«
Was Blue geradezu kriminell bescheiden fand. Gansey hatte mit Sicherheit allein für die Schnürsenkel seiner Bootsschuhe mehr als zwanzig Dollar bezahlt.
Über seine geöffnete Brieftasche hinweg blickte er Maura stirnrunzelnd an. Es waren eine Menge Scheine darin. Natürlich konnten es auch alles Ein-Dollar-Noten sein, doch das bezweifelte Blue. Hinter einem klaren Plastikfenster sah sie außerdem seinen Führerschein, nicht so genau, dass sie alle Einzelheiten hätte ausmachen können, aber immerhin konnte sie erkennen, dass der Name darauf wesentlich länger war als »Gansey« allein. »Zwanzig?«
»Pro Person«, ergänzte Blue.
Calla hustete in die vorgehaltene Faust.
Ganseys Miene hellte sich auf und er gab Maura sechzig Dollar. Ganz offensichtlich entsprach das eher seinen Erwartungen und somit war die Welt wieder in Ordnung.
Dann aber sah sie Adams Gesicht. Er musterte sie mit scharfem Blick und sie fühlte sich durchschaut und schuldig. Nicht nur weil sie ihnen zu viel berechnet hatte, sondern auch wegen Mauras Lüge. Blue hatte Ganseys Geist auf dem Leichenweg gesehen und sie hatte seinen Namen gekannt, bevor er durch die Tür gekommen war. Und doch hatte sie, wie ihre Mutter, nichts gesagt. Also war sie beteiligt.
»Ich bringe euch zur Tür«, erbot sich Maura. Sie schien eifrig darauf bedacht, die Jungen auf der anderen Seite ebendieser zu wissen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ginge es Gansey genauso, dann aber blieb er stehen und widmete dem Zusammenklappen und Wiederverstauen seiner Brieftasche ein übertriebenes Maß an Aufmerksamkeit. Schließlich sah er zu Maura auf, den Mund zu einer festen, dünnen Linie zusammengekniffen.
»Hören Sie, wir sind doch alle erwachsene Menschen«, fing er an.
Calla zog eine Grimasse, als wäre sie da anderer Meinung.
Gansey straffte die Schultern und fuhr fort: »Und darum finde ich, wir haben die Wahrheit verdient. Sagen Sie mir einfach, dass Sie etwas wissen, aber mir nicht helfen wollen, wenn es das ist, was hier abläuft. Aber lügen Sie mich bitte nicht an.«
Das auszusprechen, war mutig von ihm, oder vielleicht auch arrogant, oder vielleicht war der Unterschied dazwischen auch gar nicht so groß, dass es eine Rolle gespielt hätte. Jeder Kopf im Raum wandte sich in Mauras Richtung.
Sie sagte: »Ich weiß etwas, aber ich will dir nicht helfen.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag breitete sich Entzücken auf Callas Gesicht aus. Blues Mund stand offen. Sie klappte ihn zu.
Gansey hingegen nickte nur und wirkte nicht
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