Wen der Rabe ruft (German Edition)

Weg zur Schule als auch ins Nino. Als sie auf das riesige Fabrikgebäude zugingen, stach ihr gleich das aggressiv orangefarbene Leuchten des Camaros auf dem überwucherten Parkplatz ins Auge. Nur hundert Meter weiter stand ein glänzender dunkelblauer Helikopter.
    Sie hatte das mit dem Helikopter nicht ganz geglaubt. Oder zumindest nicht so, dass sie auf das echte, lebensgroße Exemplar vorbereitet gewesen wäre, das dort in aller Selbstverständlichkeit auf dem Parkplatz stand, als hätte nur jemand seinen Geländewagen abgestellt.
    Blue blieb wie angewurzelt stehen und hauchte: »Wow.«
    »Ich weiß«, erwiderte Adam.
    Dann sah Blue Gansey und verspürte abermals diesen Schauder, als sie versuchte, ihre Vorstellung von ihm als Geist und die Wirklichkeit des Jungen neben dem Helikopter übereinzubringen.
    »Na endlich!«, rief er und kam im Laufschritt auf sie zu. Er trug schon wieder diese idiotischen Bootsschuhe, die er auch bei der Sitzung angehabt hatte, diesmal zu Cargoshorts und einem gelben Polohemd, in dem er wirkte, als wäre er für jeglichen Notfall gerüstet, solange er dabei nur auf einer Jacht landete. In der Hand hielt er einen Karton Bio-Apfelsaft.
    Er deutete mit seinem pestizidfreien Saft auf Blue. »Kommst du auch mit?«
    Genau wie bei der Sitzung fühlte Blue sich in seiner Gegenwart klein, billig und dumm. Sie erwiderte – und bemühte sich dabei, ihre Henrietta-Vokale so kurz wie möglich zu halten: »Ob ich in dem Helikopter mitfliege, der dir ganz zufällig zur Verfügung steht, meinst du?«
    Gansey warf sich einen Rucksack aus unglaublich glattem Leder über die in ebenso glatte Baumwolle gehüllten Schultern. Sein Lächeln war liebenswürdig und einladend, als hätte ihre Mutter sich nicht kürzlich geweigert, ihm zu helfen, und als wäre sie selbst nicht gerade ziemlich unhöflich gewesen. »Bei dir klingt das, als wäre das was Schlechtes.«
    Hinter ihm begann der Helikopter loszuröhren. Adam hielt Gansey das Notizbuch hin, der bestürzt daraufblickte. Er büßte ein winziges bisschen seiner Gelassenheit ein, gerade so viel, dass Blue wieder einmal erkannte, dass diese bloß ein Teil seiner Präsident-Multitasking-Maske war.
    »Wo hast du das denn her?«, schrie Gansey.
    Und er musste schreien. Jetzt, da der Helikopter auf vollen Touren lief, röhrten seine Rotorblätter nicht mehr, sie kreischten. Luft schlug gegen Blues Ohren, mehr Gefühl als Geräusch.
    Adam deutete auf Blue.
    »Danke«, rief Gansey. Das war eine Standardantwort, erkannte Blue; wenn er sich überrumpelt fühlte, griff er auf die Macht seiner Höflichkeit zurück. Außerdem beobachtete er immer noch aufmerksam Adam und wartete auf Hinweise, wie er auf Blue reagieren sollte. Adam nickte knapp und Ganseys Maske verrutschte noch ein kleines Stück mehr. Blue fragte sich, ob das Präsident-Multitasking-Gehabe wohl ganz verschwand, wenn er mit seinen Freunden allein war. Vielleicht lag darunter der Gansey, den sie auf dem Kirchhof gesehen hatte.
    Ein ernüchternder Gedanke.
    Der Wind umpeitschte sie und Blue sah jeden Moment ihr Kleid davonfliegen. Sie fragte: »Ist das Ding denn auch sicher?«
    »So sicher, wie etwas im Leben sein kann«, antwortete Gansey. »Adam, wir liegen im Zeitplan zurück! Blue, wenn du mitkommen willst, schnür dein Mieder und los geht’s.« Er duckte sich und ging auf den Helikopter zu. Auch sein Hemd flatterte ihm am Rücken.
    Mit einem Mal wurde Blue ein kleines bisschen nervös. Angst hatte sie nicht, nicht richtig jedenfalls. Sie war einfach nur nicht darauf vorbereitet gewesen, am selben Tag noch mit einer Gruppe Raven Boys vom Erdboden abzuheben. Der Helikopter schien, trotz seiner Größe und des Lärms, den er verbreitete, ein ziemlich riskantes Transportmittel, und die Jungen waren schließlich immer noch Fremde für sie. Jetzt hatte sie das Gefühl, Maura gegenüber wirklich ungehorsam zu sein.
    »Ich bin noch nie geflogen«, gestand sie Adam laut rufend, um über das Jaulen des Helikopters gehört zu werden.
    »Noch nie?«, rief Adam zurück.
    Sie schüttelte den Kopf. Er hielt den Mund dicht an ihr Ohr, damit sie ihn hören konnte. Er roch nach Sommer und billigem Shampoo. Sie spürte ein Kribbeln, von ihrem Bauchnabel bis hinunter zu ihren Füßen.
    »Ich auch erst ein Mal«, antwortete er. Sein Atem strich warm über ihre Haut. Blue war wie gelähmt, alles, was sie denken konnte, war: »So nah kommt man sich beim Küssen.« Es fühlte sich genauso gefährlich an, wie sie es sich