Wen der Rabe ruft (German Edition)
einzelne der Fische silbern und rot war.
Nicht nur leicht rötlich, sondern leuchtend wie ein Sonnenuntergang, wie ein Traum. Als hätten sie niemals eine andere Farbe gehabt.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Blue. Doch irgendetwas in ihr zog sich zusammen, als verstünde sie sehr wohl, nur dass sie es nicht in Worte fassen, in ihre Gedanken eingliedern konnte. Sie fühlte sich, als wäre sie Teil eines Traumes, den dieser Ort erlebte, oder vielleicht war er auch Teil eines ihrer Träume.
»Ich auch nicht.«
Plötzlich hörten sie eine Stimme zu ihrer Linken und wandten beide gleichzeitig den Kopf.
»War das Adam?«, fragte Blue. Es kam ihr seltsam vor, dass sie überhaupt fragen musste, aber im Augenblick erschien ihr nichts sicher.
Wieder hörten sie Adams Stimme, diesmal deutlicher. Er und Ronan standen auf der anderen Seite des Weihers. Direkt hinter ihm erhob sich eine Eiche, in deren Stamm ein mannsgroßes, rottendes Loch klaffte. Das Wasser zu Adams Füßen spiegelte ihn und den Baum wider, kälter und ferner als die Realität es war.
Adam rieb sich die Arme, als hätte ihn plötzlicher Frost ergriffen. Ronan stand neben ihm und blickte über seine Schulter auf etwas, das Blue nicht sehen konnte.
»Kommt mal her«, sagte Adam, »und stellt euch hier rein. Und dann sagt mir, ob ich den Verstand verliere.« Sein Akzent war deutlich zu vernehmen, was, wie Blue mittlerweile wusste, bedeutete, dass er zu aufgeregt war, um ihn zu verbergen.
Blue musterte den Hohlraum. Wie alle Löcher in Bäumen war auch dieses feucht, ungleichmäßig und schwarz, und der Pilz in der Rinde arbeitete weiter fleißig an der Vergrößerung des Kraters. Die Ränder des Lochs waren zackig und brüchig, was es umso verwunderlicher machte, dass der Baum noch am Leben war.
»Alles in Ordnung?«, fragte Gansey.
»Mach die Augen zu«, forderte Adam ihn auf. Er hatte die Arme verschränkt, die Hände um seine Bizepse geklammert. Die Art, wie er nach Luft rang, erinnerte Blue an das Aufwachen nach einem Albtraum: rasendes Herz, rauer Atem, die Beine müde von einer Flucht, auf der man nie wirklich gewesen war. »Wenn du drinstehst, meine ich.«
»Warst du da drin?«, fragte Gansey Ronan, der den Kopf schüttelte.
»Ihm ist es überhaupt erst aufgefallen«, sagte Adam.
Ronan sagte unumwunden: »Ich geh da nicht rein.« Bei ihm klang es eher nach Prinzip als nach Feigheit, ähnlich wie seine Weigerung, bei der Sitzung eine Karte zu ziehen.
»Ich kann reingehen«, bot sich Blue an. »Mir macht das nichts.«
Sie konnte sich schlecht vorstellen, dass einem das Innere eines Baumes Angst einjagte, so eigenartig der Wald ringsum auch sein mochte. Sie trat in den Hohlraum und drehte sich um, sodass sie nach draußen blicken konnte. Die Luft in dem Baumstamm war feucht und stickig. Noch dazu war sie schwül, und obwohl Blue wusste, dass das am Verrottungsprozess des Holzes lag, erschien ihr der Baum dadurch wie ein warmblütiges Wesen.
Vor ihr stand Adam und klammerte sich noch immer an seinen eigenen Armen fest. Was glaubt er denn, wird hier drin passieren?
Sie schloss die Augen. Beinahe sofort konnte sie Regen riechen – nicht die Luft, wenn Regen aufzog, sondern den lebendigen, turbulenten Geruch eines tosenden Sturms, den klaren Duft einer Brise, die durch Wasser fuhr. Dann spürte sie, dass etwas ihr Gesicht berührte.
Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich sowohl innerhalb ihres Körpers als auch außerhalb und beobachtete sich selbst, weit weg von der Höhlung im Baum. Die Blue, die sie sah, stand nur Zentimeter entfernt von einem Jungen in einem Aglionby-Pullover. Sein Rücken war leicht gebeugt und seine Schultern voll dunkler Regenflecken. Es waren seine Hände, die Blue auf ihrem Gesicht spürte. Er strich ihr mit den Rückseiten seiner Finger über die Wangen.
Tränen strömten über das Gesicht der anderen Blue. Durch irgendeinen seltsamen Zauber spürte Blue sie jedoch auch auf ihrem eigenen Gesicht. Und sie spürte abermals diese tiefe, herzzerreißende Trauer wie schon auf dem Kirchhof, diesen Kummer, der mächtiger war als sie selbst. Die Tränen der anderen Blue schienen nicht versiegen zu wollen. Ein Tropfen nach dem anderen fiel und folgte demselben Pfad über ihre Wangen.
Der Junge in dem Aglionby-Pullover lehnte seine Stirn an Blues. Sie fühlte seine Haut auf ihrer und plötzlich roch sie Minze.
»Alles wird gut«, sagte Gansey zu der anderen Blue. Sie konnte hören, dass er Angst hatte. »Alles
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