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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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wird gut.«
    Erschüttert stellte Blue fest, dass die andere Blue weinte, weil sie Gansey liebte. Und dass Gansey sie so berührte, dass seine Finger so vorsichtig über ihre Haut glitten, weil er wusste, dass ihr Kuss ihn töten konnte. Sie spürte, wie sehr die andere Blue ihn küssen wollte und sich gleichzeitig davor fürchtete. Obwohl sie nicht verstand, warum, wurden ihre echten, heutigen Erinnerungen in dem Baumloch von anderen, falschen überlagert, in denen sich ihre Lippen beinahe berührten, von einem ganzen Leben, das jene andere Blue bereits gelebt hatte.
    »Okay. Ich bin bereit …« Gansey blieb die Stimme im Hals stecken, ganz kurz nur. »Blue, küss mich.«
    Zitternd öffnete Blue die Augen, diesmal wirklich, und sie sah wieder die Dunkelheit der Höhle um sich, roch den finsteren, dumpfigen Geruch des Baums. Ihr Magen zog sich unter dem geisterhaften Kummer und dem Verlangen aus ihrer Vision zusammen. Sie fühlte sich elend und schämte sich, und als sie aus dem Baum heraustrat, konnte sie Gansey nicht ins Gesicht blicken.
    »Und?«, fragte er.
    »Das ist … schon was«, sagte sie.
    Als sie es nicht weiter erklärte, nahm er ihren Platz in dem Baum ein.
    Es hatte so real gewirkt. War das die Zukunft gewesen? Oder eine alternative Zukunft? Oder nur ein Wachtraum? Sie konnte sich nicht vorstellen, sich ausgerechnet in Gansey zu verlieben, in der Vision aber war es nicht nur möglich, sondern unausweichlich erschienen.
    Als Gansey sich in dem Loch umdrehte, griff Adam nach ihrem Arm und zog sie näher zu sich. Nicht besonders sanft, aber Blue glaubte nicht, dass er vorsätzlich grob war. Trotzdem zuckte sie zusammen, als er ihr mit dem Ballen seiner anderen Hand über das Gesicht wischte. Sie hatte tatsächlich geweint.
    »Ich will, dass du weißt«, flüsterte Adam aufgebracht, »dass ich so was nie tun würde. Das war nicht echt. Ich würde ihm das niemals antun.«
    Seine Finger umfassten fest ihren Arm und sie spürte, wie er zitterte. Blue sah blinzelnd zu Adam auf und wischte sich die Wangen trocken. Erst einen Augenblick später wurde ihr klar, dass er etwas völlig anderes gesehen haben musste als sie.
    Aber wenn sie ihn danach fragte, musste sie ihm auch erzählen, was sie gesehen hatte.
    Ronan starrte sie erbarmungslos an, so als wüsste er genau, was in dem Baum passiert war, ohne es selbst versucht zu haben.
    Ein paar Schritte weiter, in dem Hohlraum, stand Gansey mit gebeugtem Kopf. Die Hände vor sich gefaltet, sah er aus wie eine Statue in einer Kirche. In diesem Moment, mit der Wölbung des Baumes über sich und den gesenkten Lidern, die der Schatten farblos erscheinen ließ, wirkte er uralt. Er war er selbst, aber zugleich auch noch etwas anderes – und jenes Etwas, das Blue zum ersten Mal bei der Sitzung in ihm gesehen hatte, jenes Andere , jenes Mehr , schien nun von seiner zur Skulptur erstarrten Gestalt im Schrein des dunklen Baumes auszustrahlen.
    Adam hatte das Gesicht abgewandt und jetzt, jetzt , erkannte Blue den Ausdruck darauf: Scham. Was immer er in seiner Vision in dem hohlen Baum gesehen hatte, er war überzeugt, dass Gansey es nun auch sah, und das konnte er nicht ertragen.
    Gansey schlug die Augen auf.
    »Was hast du gesehen?«, fragte Blue.
    Er legte den Kopf schräg. Es war eine langsame, träumerische Bewegung.
    Dann sagte Gansey: »Ich habe Glendower gesehen.«

24
    W ie Adam gewarnt hatte, hatte es länger als zwei Sekunden gedauert, den Raben auf dem Boden zu erforschen, dem Bach in den Wald zu folgen, den Fischen beim Farbwechsel zuzusehen, einen Halluzinationen auslösenden Baum zu entdecken und zu Helen zurückzukehren.
    Ganseys Uhr zufolge waren es ganze sieben Minuten gewesen.
    Helen war stinksauer. Und als Gansey ihr erzählte, dass diese sieben Minuten ein Wunder waren und sie in Wirklichkeit mindestens vierzig hätten fort sein müssen, entspann sich ein so heftiger Streit zwischen den Geschwistern, dass Ronan, Adam und Blue ihre Kopfhörer absetzten, damit die beiden das Ganze in Ruhe ausdiskutieren konnten. Ohne ihre Headsets waren die drei auf dem Rücksitz jedoch ihrer Sprache beraubt. Eigentlich hätte ein unbehagliches Schweigen entstehen müssen, stattdessen aber stellten sie fest, dass es ohne Worte sogar angenehmer war.
    »Das ist unmöglich«, sagte Blue, sobald der Helikopter sich weit genug vom Parkplatz des Monmouth Manufacturing entfernt hatte, dass sie einander wieder hören konnten. »Die Zeit kann doch nicht stehen geblieben sein,

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