Wen die Goetter strafen
in Sarajevo nicht umbringen lassen, ich werde mich auch hier nicht umbringen lassen.
Hastig schlüpfte er in seine Kleidung. Als er zu seiner Armprothese greifen wollte, die auf dem Stuhl lag, rutschte sie ihm aus der Hand und landete mit einem lauten Krachen, das Kemal wie Donnerhall vorkam, am Boden. Er fuhr zusammen. Die Männer draußen redeten weiter. Sie hatten offenbar nichts gehört. Kemal schnallte seinen künstlichen Arm an und knöpfte sein Hemd zu.
Eisige Luft schlug ihm entgegen, als er das Fenster öffnete. Sein Mantel hing im Zimmer nebenan, er hatte nur eine dünne Jacke an. Zähneklappernd kletterte Kemal hinaus auf den Fenstersims. Er zog sich auf die Feuerleiter, die zum Boden hinunterführte, duckte sich vorsichtshalber, damit ihn vom Wohnzimmerfenster aus niemand sah, und stieg hinab.
Kemal blickte auf seine Uhr, als er unten angelangt war. Es war Viertel vor drei. Irgendwie hatte er den halben Tag verschlafen. Er rannte los.
»Wir sollten den Bengel auf jeden Fall fesseln.«
Einer der Männer öffnete die Tür zum Arbeitszimmer und blickte sich verdutzt um. »Hey, er ist weg.«
Mrs. Daley und die beiden Männer stürmten ans Fenster und sahen gerade noch, wie Kemal die Straße entlangrannte.
»Schnappt ihn euch.«
Kemal kam sich vor wie in einem Albtraum – seine Knie wurden immer weicher, so als hätte er Gummi in den Beinen. Bei jedem Atemzug hatte er das Gefühl, als stieße ihm jemand ein Messer in die Brust.
Wenn ich bis drei bei der Schule bin, bevor das Tor abgesperrt wird,
dachte er,
bin ich in Sicherheit. Die trauen sich bestimmt nicht, mir was anzutun, wenn all die anderen Kids um mich herum sind.
Vor ihm war eine rote Ampel. Ohne darauf zu achten, stürmte er quer über die breite Straße, wich vorbeifahrenden Autos aus, nahm das wütende Hupen und die kreischenden Bremsen rundum gar nicht wahr. Unversehrt erreichte er die andere Straßenseite und rannte weiter.
Miss Kelly muss die Polizei anrufen, und die beschützt Dana bestimmt.
Kemal geriet allmählich außer Atem, und das Seitenstechen wurde immer schlimmer. Wieder schaute er auf seine Uhr: Fünf vor drei. Er blickte auf. Die Schule war gleich da vorn.
Nur noch zwei Querstraßen.
Ich bin in Sicherheit,
dachte Kemal.
Der Unterricht ist noch nicht aus.
Eine Minute später war er am Eingangstor. Er blieb davor stehen und starrte es ungläubig an.
Es ist geschlossen.
Plötzlich spürte er, wie ihn jemand von hinten mit eisernem Griff an der Schulter packte.
»Es ist Samstag, du Dummkopf.«
»Halten Sie hier«, sagte Dana. Sie waren zwei Querstraßen von ihrer Wohnung entfernt. Dana blickte dem davonfahrenden Taxi hinterher. Langsam lief sie los, suchte angespannt und aufmerksam die Straße ab, achtete ständig drauf, ob ihr irgendetwas ungewöhnlich vorkam. Sie war davon überzeugt, dass Kemal in Sicherheit war. Jack Stone beschützte ihn.
Als Dana an die Ecke des Hauses kam, in dem sie wohnte, ging sie nicht zur Vordertür, sondern begab sich in die Gasse, die zur Rückseite des Gebäudes führte. Kein Mensch weit und breit. Dana ging durch den Hintereingang und stieg leise die Treppe hinauf. Im zweiten Stock angelangt, lief sie den Flur entlang, blieb aber plötzlich stehen. Ihre Wohnungstür stand weit offen. Dana bekam es augenblicklich mit der Angst zu tun. Sie rannte zur Tür und stürmte hinein. »Kemal!«
Niemand war da. Hektisch lief Dana durch die ganze Wohnung, fragte sich, was passiert sein könnte.
Wo ist Jack Stone? Wo ist Kemal?
In der Küche war eine Schublade herausgefallen und der Inhalt über den Boden verteilt. Dutzende kleiner Schachteln lagen da, leere wie volle. Verwundert hob Dana eine auf und betrachtete sie.
BuSpar,
stand auf dem Etikett,
15 mg je Tablette.
Und dazu das Kennzeichen:
NDC DO87 D822-32.
Was war das? Nahm Mrs. Daley etwa Medikamente, oder hatte sie die Kemal gegeben? Hatte das vielleicht etwas mit seinem sonderbaren Verhalten zu tun? Dana steckte eine der Schachteln in ihre Manteltasche.
Verstört stahl sich Dana aus der Wohnung. Sie nahm wieder den Hintereingang, ging in die Gasse und lief zur Straße. Als Dana um die Ecke bog, sprach ein Mann, der sich hinter einem Baum verbarg, über Walkie-Talkie mit seinem Komplizen an der gegenüberliegenden Ecke.
Unmittelbar vor Dana war die Washington Pharmacy. Sie ging hinein.
»Ah, Miss Evans«, sagte die Apothekerin. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, Coquina. Ich möchte gern wissen, was das ist.« Sie holte die kleine
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