Wende
niederen Kleriker, vierhundert für einen Kleriker, der beim Lesen der Messe erschlagen wurde, und so weiter –, in diesem Kodex wurde der Verlust eines Schreibers durch eine Gewalttat genau so hoch bewertet wie der eines Bischofs oder eines Abtes.
Es war dies eine Zeit, in der ein Leben wenig galt, also lässt der hohe Preis erkennen, wie wichtig und wie schwierig es für ein Kloster war, die Bücher zu besorgen, die erforderlich waren, um die Leseregel einzuhalten. Selbst die berühmtesten Klosterbibliotheken des Mittelalters waren klein im Vergleich zu den Bibliotheken der Antike oder jenen, die es in Bagdad oder Kairo gab. Um eine auch nur bescheidene Büchersammlung zusammenzutragen, musste man in den Jahrhunderten, bevor die Erfindung des
Buchdrucks die Verhältnisse nachhaltig veränderte, einrichten, was man scriptoria nannte: Werkstätten, in denen die Mönche lernten, stundenlang still zu sitzen und Texte zu kopieren. Die ersten Abschriften werden noch unter improvisierten Umständen entstanden sein, in Räumen des Klosters, in denen Kälte vielleicht die Finger steif werden ließ, in denen es zumindest aber ausreichend Licht gab. Mit der Zeit aber wurden Räume eigens für Schreiber und Kopisten eingerichtet oder sogar neu gebaut. In den größeren Klöstern, die immer mehr darauf bedacht waren, bedeutende Sammlungen von Schriften zusammenzutragen, wurden große Säle mit Fenstern aus ungefärbtem Glas ausgestattet, unter denen Mönche – manchmal bis zu dreißig an der Zahl – an ihren Schreibpulten saßen, wobei die Arbeitsplätze manchmal auch durch Trennwände voneinander abgeteilt waren.
Verantwortlich für das Skriptorium war eben die Person, auf die Poggio und andere Bücherjäger ihre Schmeicheleien und Verführungskünste konzentrierten: der Klosterbibliothekar. Diese im Klosterleben gewichtige Gestalt war es gewohnt, intensiv hofiert zu werden, denn er war ja auch derjenige, der alles herbeizuschaffen hatte, was die Mönche zum Kopieren der Handschriften benötigten: Federn, Tinte, Federmesser. Unausweichlich würde ein Schreiber schon nach ein paar Stunden seines Tagespensums Vorzüge oder Mängel des Geräts zu spüren bekommen. Wenn er es darauf anlegte, konnte der Bibliothekar einem Schreiber das Leben durchaus schwermachen, konnte ihm mit besonders feinen Geräten aber auch Gefälligkeiten erweisen. Dazu gehörten auch Lineale, Ahlen (mit denen feine Löcher in den Schreibgrund gestochen wurden, um gleichmäßig Linien ziehen zu können), feinste Stahlfedern, mit denen die Linien gezogen wurden, Lesegestelle, die das zu kopierende Buch hielten, Gewichte, die dessen Seiten am Umschlagen hinderten. Weiteres Gerät und Material waren zu besorgen, wenn die Manuskripte illuminiert werden sollten.
In der Antike waren die meisten Texte in Rollenform angefertigt worden – den Thora-Rollen ähnlich, die Juden in ihren Gottesdiensten bis heute verwenden. Vom vierten Jahrhundert an nutzten die Christen dann fast ausschließlich ein anderes Format, nämlich den Kodex, aus dem sich das uns vertraute Buch entwickelte. Der Kodex hat den großen Vorteil, dass er dem Leser die Orientierung im Text erleichtert: Er kann paginiert
werden, es lassen sich Register anlegen, man kann rasch zur gewünschten Stelle blättern. Erst mit der Erfindung des Computers und seinen Suchfunktionen erwuchs dem einfachen und vielseitigen Format des Kodex ein ernsthafter Konkurrent – heute erst sprechen wir wieder davon, durch einen Text zu »scrollen« (englisch für »rollen«).
Weil es keinen Papyrus mehr gab, Papier aber erst mit dem 14. Jahrhundert allgemein in Gebrauch kam, wurde der hauptsächlich verwendete Schreibgrund aus Tierhäuten hergestellt – aus Häuten von Kühen, Ziegen und Schafen, gelegentlich auch von Rotwild. Diese Oberflächen mussten geglättet werden, darum verteilte der Klosterbibliothekar als weiteres Werkzeug auch Bimsstein, mit dem sich letzte Tierhaare, Unebenheiten oder andere Fehlstellen abreiben ließen. Der Schreiber, dem man Pergament von schlechter Qualität hingelegt hatte, konnte sich auf besondere Mühen gefasst machen, und so findet man an den Rändern überlieferter klösterlicher Handschriften gelegentlich verzweifelte Ausbrüche: »Das Pergament ist voller Haare«; oder: »Dünne Tinte, schlechtes Pergament, schwieriger Text ... Gott sei Dank wird es bald dunkel.« 18 »Möge dem Kopisten erlaubt sein, diese Mühsal bald zu beenden«, setzte ein anderer Mönch unter
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