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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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Poggios große Begabung als Schreiber und Kopist erschien seinen Zeitgenossen unheimlich, umso mehr, als er auch noch äußerst schnell zu arbeiten verstand. Mit allen diesen Talenten hatte er nicht nur beste Chancen, sich schmeichelnd Zugang zu den Klöstern zu verschaffen und dort wertvolle verschollene Handschriften aufzuspüren, er konnte auch die Erlaubnis bewirken, diese Texte auszuleihen, konnte sie dann rasch kopieren, die Vorlage retournieren und das Ergebnis ins heimatliche Italien schicken, wo seine Humanistenfreunde schon begierig warteten. Wenn aber nichts half und die Handschrift partout nicht auszuleihen war – der Bibliothekar durch nichts zu bewegen, gerade dieses Manuskript aus der Hand zu geben –, dann konnte Poggio es vor Ort kopieren oder diese Aufgabe einem Schreiber übertragen, dem er zumindest die allernotwendigsten Fähigkeiten beigebracht hatte.
     
    Im Jahr 1417 traf nahezu perfekt zusammen, was Poggio zur Bücherjagd brauchte: Zeit, Fertigkeiten und leidenschaftlicher Wille. Nur eines fehlte: die notwendige Barschaft. Selbst wenn man einfach reiste, war Reisen damals teuer. Man musste ein Pferd mieten und füttern, hatte, wenn man Flüsse überqueren oder mautpflichtige Straßen nutzen wollte, Gebühren zu zahlen, dazu kamen Abgaben, die griesgrämige Zollbeamte oder Agenten von Kleinadligen forderten – das konnte sehr wohl an Erpressung grenzen –, und nicht zuletzt waren in den Gasthäusern Kosten für Essen, Bett und Pferdestall zu begleichen. Auch wenn er einen Hilfsschreiber bezahlen wollte, brauchte Poggio Geld; und hin und wieder war wohl auch ein zögerliches Kloster mit Geld günstig zu stimmen, damit es seine Schätze auslieh.
    Selbst wenn Poggio während seiner Jahre in päpstlichen Diensten einiges hatte beiseitelegen und zur Bank bringen können, ist es unwahrscheinlich, dass er in der Lage war, alle Jagdkosten alleine zu tragen. Also wird sich dieser passionierte Briefschreiber wohl auch auf seine Feder verlassen haben. Wird reichen Freunden zuhause in Italien geschrieben und den Männern, die seine Leidenschaften teilten, geschildert haben, welche Möglichkeit ihm der Zufall eröffnet habe: Alle hätten sie davon bislang
nur träumen können. Poggio war gesund, ihn plagte weder Familie noch ein Dienst, und niemandem verpflichtet, konnte er kommen und gehen, wie er wollte. Ihm stand zur Verfügung, was er brauchte, um sich ernsthaft auf die Suche nach verlorenen Schätzen zu begeben – nach der Erbschaft der Antike.
    Ob sie von einem einzelnen reichen Förderer kam oder eine Gruppe befreundeter Humanisten zusammenlegte: Nur solche Unterstützung durch Dritte macht verständlich, dass Poggio sich im Januar 1417 tatsächlich aufmachen konnte zu dem Ort, an dem seine Entdeckung auf ihn wartete. Und diese Unterstützung muss beträchtlich gewesen sein, denn besagte Reise war nicht die einzige Expedition des Bücherjägers in diesem Winter. Er machte sich unmittelbar nach einer anderen Reise, die ihn zum altehrwürdigen Kloster St. Gallen, nicht weit von Konstanz, geführt hatte, erneut auf den Weg. Auch nach St. Gallen war Poggio bereits ein zweites Mal geritten, schon im Jahr zuvor waren ihm dort, damals in Begleitung zweier italienischer Freunde, eine Reihe bedeutender Funde gelungen. Möglicherweise hatten sie damals etwas übersehen, und so machten sich Poggio und einer der beiden ersten Reisegefährten noch einmal auf den Weg dorthin.
    Die zwei, Poggio und Bartolomeo de Aragazzi, hatten vieles gemeinsam. Beide stammten sie aus der Toskana, Poggio aus der bescheidenen Stadt Terranuova bei Arezzo, Bartolomeo aus dem wundervoll auf einem Berg gelegenen Montepulciano. Beide waren sie nach Rom gegangen, hatten dort Posten als Skriptoren der päpstlichen Kurie erlangt. Und beide waren sie auch nach Konstanz gereist, um unter dem verhängnisvollen Pontifikat Johannes’ XXIII. ihren Dienst als apostolische Sekretäre zu tun, 13 verfügten nach dem Sturz des Papstes also auch über eine Menge freie Zeit. Begeisterte Humanisten, die sie waren, taten beide nichts lieber, als ihre Fähigkeiten als Leser und Kopisten zur Entdeckung verschollener antiker Texte einzusetzen.
    Sie waren eng befreundet, arbeiteten und reisten zusammen, hatten gleiche Absichten und Ziele. Gleichzeitig jedoch waren sie auch Rivalen, konkurrierten um den Ruhm, den ein Mann mit der Entdeckung von Texten erwerben konnte. »Ich hasse diese prahlerischen Gespräche, diese Schmeichelei, diese

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