Wende
jedenfalls waren geneigt, sich antike Texte vorzunehmen. Zwischen dem sechsten und der Mitte des achten Jahrhunderts wurden so gut wie gar keine griechischen und lateinischen Klassiker mehr kopiert. Was als Kampagne des Vergessens begonnen hatte – als frommer Angriff auf heidnische Vorstellungen –, wurde zu realem Vergessen. Antike Gedichte, philosophische Abhandlungen und politische Reden, die ebenso gefährlich wie verlockend schienen, waren im Bewusstsein der Menschen nicht mehr präsent, geschweige denn, dass irgendwer sie im Mund geführt hätte. Sie waren zu schweigenden Objekten geworden, zu Pergamentbögen, die zusammengebunden und mit ungelesenen Worten bedeckt waren.
Allein dass das Pergament dieser Kodices so bemerkenswert haltbar war, hielt Denken und Gedanken der Alten am Leben; andererseits bot, wie die humanistischen Bücherjäger wussten, auch die Haltbarkeit des Schreibgrunds keine Garantie dafür, dass die Texte nicht untergingen. Oft löschten die Mönche mit Messern, Bürsten und Lappen die alten Schriften aus – Vergil, Ovid, Cicero, Seneca, Lukrez – und schrieben an deren Stelle die Texte, die sie auf Anweisung ihrer Oberen zu kopieren hatten. 21 Die Aufgabe des Auslöschens war wohl sehr ermüdend und anstrengend, und für die wenigen Skriptoren, die sich tatsächlich für die Werke interessierten, die sie wegkratzen sollten, wohl auch ziemlich quälend.
Erwies sich die Originaltinte als hartnäckig haltbar, konnte es sein, dass zumindest Spuren der Texte lesbar blieben, über welche die neuen
geschrieben worden waren. Das etwa galt für Ciceros De re publica (Über den Staat): 1819 wurde eine im vierten Jahrhundert entstandene Kopie entdeckt, und zwar unter einer im siebten Jahrhundert entstandenen Abschrift von Augustinus’ Psalmkommentaren. Und die einzig erhaltene Abschrift von Senecas Buch über die Freundschaft wurde unter einem Alten Testament entziffert, das Ende des sechsten Jahrhunderts abgeschrieben worden war. Diese merkwürdigen, übereinander geschichteten Handschriften – Palimpsest genannt, nach dem griechischen Wort für »wieder abreiben« – dienten als Quellen für einige große Werke des Antike – andernfalls wären sie verloren gewesen. Doch kein mittelalterlicher Mönch wäre auf den Gedanken gekommen, wirklich »zwischen den Zeilen« zu lesen.
Schon das Kloster war ein Ort der Regeln, im Skriptorium aber galten Regeln innerhalb dieser Regeln. Zutritt zu diesem besonderen Ort, an dem absolute Stille herrschte, hatten nur die Schreiber. Ihnen war es nicht gestattet, sich die Bücher auszusuchen, die sie kopierten, auch durften sie die Totenstille nicht brechen, um den Bibliothekar mit lauter Stimme um Bücher zu bitten, die sie zur Vollendung der ihnen übertragenen Aufgabe konsultieren wollten. Eine komplizierte Zeichensprache wurde erfunden, die solche Nachfragen in statthafter Form ermöglichte. Wollte ein Schreiber etwa einen Psalm nachlesen, machte er das allgemeine Zeichen für Buch – er streckte seine Hände aus und blätterte imaginäre Seiten um – und ergänzte das, indem er die Hände auf seinem Kopf zu einer Krone formte: zum Zeichen für die Psalmen König Davids. Wenn er ein heidnisches Buch brauchte, begann er sich, nach dem allgemeinen Zeichen für Buch, wie ein Hund hinterm Ohr zu kratzen. Wollte er aber haben, was die Kirche als besonders beleidigendes oder gefährliches Werk betrachtete, konnte er zwei Finger in den Mund stecken, als wolle er sich übergeben.
Poggio, als Laie, gehörte in eine völlig andere Welt. Wohin genau er wollte, nachdem sich 1417 seine und Bartolomeos Wege getrennt hatten, ist nicht bekannt; vielleicht vermied er bewusst – wie ein Goldsucher seine Fundstellen nicht nennen würde –, den Namen des Ortes in seinen Briefen zu erwähnen. In der Hoffnung, einen bemerkenswerten Fund zu machen, könnte er Dutzende Klöster angesteuert haben, lange Zeit haben viele Forscher die Benediktinerabtei von Fulda für das wahrscheinlichste Ziel gehalten. 22 Diese Abtei, zwischen Rhön und Vogelsberg mitten in
Deutschland gelegen, hatte genau die Eigenschaften, die das Interesse eines Büchersuchers wecken konnten: Sie war alt und reich und konnte auf eine lange Tradition der Gelehrsamkeit zurückblicken, befand sich damals allerdings im Niedergang.
Sollte er tatsächlich nach Fulda geritten sein, hätte er es sich auf keinen Fall leisten können, anmaßend oder überheblich aufzutreten. Im achten Jahrhundert vom
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