Im Sturm des Lebens
Prolog
A n dem Abend, als er ermordet wurde, nahm Bernardo Baptista eine einfache Mahlzeit aus Brot, Käse und einer Flasche Chianti zu sich. Der Wein war noch etwas jung, Bernardo nicht. Keiner von beiden hatte die Chance, älter zu werden.
Wie Brot und Käse war Bernardo ein einfacher Mann. Seit seiner Hochzeit vor fünfundfünfzig Jahren wohnte er noch immer im selben kleinen Haus in den sanften Hügeln nördlich von Venedig. Seine fünf Kinder waren hier aufgewachsen. Seine Frau war hier gestorben.
Mittlerweile war Bernardo dreiundsiebzig und lebte allein. Die meisten Mitglieder seiner Familie wohnten nur einen Steinwurf entfernt, am Rand des großen Weinbergs von Giambelli, wo Bernardo seit seiner Jugend gearbeitet hatte.
Er kannte La Signora seit ihrer Kindheit, und man hatte ihm beigebracht, die Mütze zu ziehen, wann immer sie vorbeikam. Und wenn Teresa Giambelli jetzt aus Kalifornien zum Castello und dem Weinberg zurückkam, blieb sie immer noch stehen, wenn sie ihn sah. Dann redeten sie von den alten Zeiten, als ihr Großvater und er im Weinberg gearbeitet hatten.
Signore Baptista nannte sie ihn. Respektvoll. Er mochte La Signora, und er war ihr und den Ihren sein ganzes Leben lang treu ergeben gewesen.
Mehr als sechzig Jahre lang war er an der Bereitung von Giambelli-Wein beteiligt gewesen. Es hatte zahlreiche Veränderungen gegeben – manche zum Guten, nach Bernardos Meinung, andere nicht. Er hatte viel gesehen.
Manche fanden, zu viel.
Die Weinstöcke, die jetzt noch im Winterschlaf lagen, mussten bald beschnitten werden. Wegen seiner Arthritis konnte Bernardo nicht mehr so viel mit den Händen arbeiten wie früher, aber trotzdem würde er jeden Morgen hinausgehen, um zuzusehen, wie seine Söhne und Enkel die Tradition fortführten.
Immer hatte ein Baptista für Giambelli gearbeitet. Und in Bernardos Vorstellung würde das auch immer so bleiben.
An diesem letzten Abend seiner dreiundsiebzig Jahre blickte er hinaus über die Weinstöcke – seine Weinstöcke, um zu sehen, was bereits getan worden war und was noch getan werden musste, und er lauschte dem Dezemberwind, der durch die dürren Äste raschelte.
Sie zogen sich in gleichmäßigen Reihen die Hänge hinauf. Mit der Zeit würden sie zu neuem Leben erwachen. Sie vergingen nicht wie der Mensch. Das war das Wunder der Traube.
Er konnte die Schatten und die Umrisse des großen Castello erkennen, das die Weinberge überragte und über diejenigen wachte, die darin arbeiteten.
Jetzt lag es verlassen in der Winternacht. Nur die Dienstboten schliefen im Castello , und die Trauben mussten erst noch reifen.
Bernardo sehnte sich nach dem Frühling und dem langen Sommer, der darauf folgte, wenn die Sonne wieder seinen Leib wärmen würde und die junge
Frucht reif werden ließ. Wie jedes Jahr wollte er wenigstens noch eine Ernte erleben.
Die Kälte machte Bernardo zu schaffen, schmerzte tief in seinen Knochen. Er überlegte, ob er die Suppe warm machen sollte, die seine Enkelin ihm gebracht hatte, aber seine Annamaria war keine besonders gute Köchin. Mit diesem Gedanken aß er den Käse auf und trank, an seinem kleinen Kamin sitzend, von dem guten, vollmundigen Wein.
Er war stolz auf sein Lebenswerk. Das Glas enthielt einen Teil davon. Im Schein des Feuers schimmerte es tiefrot. Der Wein war ein Geschenk gewesen, eins von vielen, die er zu seiner Pensionierung bekommen hatte, obwohl jeder wusste, dass er sich nur auf dem Papier zur Ruhe setzte. Trotz seiner schmerzenden Knochen und seines altersschwachen Herzens ging Bernardo immer noch zum Weinberg, prüfte die Trauben, beobachtete den Himmel und schnupperte die Luft.
Er lebte für Wein.
Und er starb dafür.
Er trank und nickte am Feuer ein, eine Decke über die dünnen Beine gelegt. Sonnenüberflutete Felder erschienen vor seinem inneren Auge, seine Frau, lachend, er selbst, wie er seinem Sohn beibrachte, eine junge Weinrebe zu stützen, eine reife zu beschneiden. La Signora stand neben ihm zwischen den Reihen, die ihre Großväter angelegt hatten.
Signore Baptista, sagte sie zu ihm, als ihre Gesichter noch jung waren, uns ist eine Welt geschenkt worden. Wir müssen sie behüten.
Und das hatten sie getan.
Der Wind pfiff um die Fenster seines kleinen Hauses. Das Feuer erlosch langsam.
Und als der Schmerz wie eine Faust nach ihm griff und sein Herz zu Tode drückte, war sein Mörder sechstausend Meilen weit weg, umgeben von Freunden und Partnern, und genoss einen perfekt gedünsteten
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