Wende
gleich zu welcher Zeit. Einem der Gesprächspartner, Cosimo de’ Medici, legt Poggio die Bemerkung in den Mund, man müsse eine Ausnahme machen für Päpste und Kirchenfürsten, die doch ganz offensichtlich ein Leben in außerordentlichem Luxus und voller Annehmlichkeiten führten. Mit eigener Stimme sprechend, erwidert Poggio: »Ich bin Zeuge (und habe fünfzig Jahre mit ihnen gelebt), und ich habe niemanden getroffen, der sich selbst auf irgendeine Weise für glücklich hielt, keinen, der nicht darüber jammerte, dass das Leben gefährlich, beunruhigend, beängstigend und mit vielen Sorgen beladen sei.« 17
Angesichts der Düsternis, die den gesamten Dialog durchzieht, könnte es scheinen, als sei Poggio völlig der Melancholie des Lebensabends erlegen, doch präsentiert sich die zweite Schrift dieser Periode, ebenfalls Cosimo de’ Medici zugeeignet, ganz anders. Über ein halbes Jahrhundert zuvor hatte er Griechisch gelernt, nun übertrug Poggio Lukian von Samosatas reichlich komischen Roman Lucius oder der Esel ins Lateinische, eine magische Erzählung von Hexerei und Verwandlung. Und mit seinem dritten Vorhaben, das wiederum in eine andere Richtung zeigt, machte er sich durchaus parteiisch daran, die Geschichte der Stadt Florenz von der Mitte der 14. Jahrhunderts bis in seine Zeit zu erzählen. Die bemerkenswerte Bandbreite dieser drei Vorhaben – das erste passt zu einem mittelalterlichen Asketen, das zweite zu einem Renaissancehumanisten, das dritte zu einem patriotischen Stadthistoriker – spricht für die Vielseitigkeit sowohl von Poggios Charakter wie dem der Stadt, die er vertrat. Für die Florentiner Bürger des 15. Jahrhunderts lagen diese Stränge offenbar eng beieinander, waren Teile eines einzigen, komplexen kulturellen Ganzen.
Im April 1458, kurz nach seinem achtundsiebzigsten Geburtstag, legte Poggio sein Amt nieder. Er wolle sich, so erklärte er, seinen Studien widmen und als Privatbürger schreiben. Achtzehn Monate später, am 30. Oktober
1459, ist Poggio gestorben. Weil er zuvor aus dem Amt geschieden war, konnte ihm die Stadt kein großes Staatsbegräbnis ausrichten, doch beerdigten sie ihn mit einer würdigen Zeremonie in der Kirche Santa Croce. Ein von Antonio Pollaiuolo gemaltes Porträt wurde in einer der öffentlichen Hallen der Stadt aufgehängt; auch eine Statue gab die Stadtregierung in Auftrag, die vor der Kathedrale Santa Maria del Fiore aufgestellt wurde. Als die Domfassade 1560, ein Jahrhundert später, erneuert wurde, bekam das Standbild einen anderen Platz im Gebäude; es dient noch heute als eine Figur aus einer Gruppe der zwölf Apostel. Es ist sicher eine Ehre für einen frommen Christen, wenn sein Abbild diese Funktion übernehmen darf, dennoch bezweifle ich, ob Poggio das wirklich gefallen hätte. Er war stets darauf bedacht, eine angemessene öffentliche Bestätigung zu finden.
Ein Großteil dieser Anerkennung ist heute verschwunden. Sein Grab in Santa Croce wurde ersetzt durch Gräber anderer Berühmtheiten. Seine Geburtsstadt allerdings wurde umbenannt in Terranuova Bracciolini, zu Ehren ihres berühmten Sohnes, und 1959, an seinem fünfhundertsten Todestag, wurde auf dem grünen Stadtplatz seine Statue aufgestellt. Doch nur wenige, die auf dem Weg in die nahen Mode-Outlets hier vorüberkommen, werden noch eine Vorstellung von dem Mann haben, der dort geehrt wird.
Dennoch ist Poggio mit seinen Bücherjagden zu Beginn des 15. Jahrhunderts etwas Erstaunliches gelungen. Die Texte, die er wieder in Umlauf brachte, sichern ihm einen Ehrenplatz unter seinen berühmteren Florentiner Zeitgenossen Filippo Brunelleschi, Lorenzo Ghiberti, Donatello, Fra Angelico, Paolo Uccello, Luca della Robbia, Masaccio, Leon Battista Alberti, Filippo Lippi, Piero della Francesca. Lukrez’ Gedicht bestimmt nicht die Stadtsilhouette, das hat Brunelleschis mächtige Kuppel übernommen, die größte, die seit dem Altertum errichtet wurde. Nicht die Stadt, dafür aber die Landschaft der Welt hat sich mit Poggios Entdeckung gewaltig verändert.
KAPITEL ZEHN
WENDUNGEN
Ü ber fünfzig Handschriften von De rerum natura aus dem 15. Jahrhundert haben sich bis heute erhalten – eine erstaunlich große Zahl, und es wird gewiss sehr viel mehr gegeben haben. Sobald sich Gutenbergs sinnreiche Erfindung kommerziell durchgesetzt hatte, folgten rasch gedruckte Ausgaben. Fast alle dieser Bände enthielten im Vorwort Warnungen und Widerlegungen.
Als sich das 15. Jahrhundert seinem Ende zuneigte,
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