Wende
herrschte der Dominikanermönch Girolamo Savonarola über Florenz, das für einige Jahre zur strikt »christlichen Republik« wurde. Savonarolas leidenschaftliches, charismatisches Predigen hatte die Florentiner in großen Scharen, die Eliten ebenso wie den Pöbel, in eine kurzlebige, aber fiebernd-intensive Stimmung von Reue und Buße versetzt. Sodomie wurde als Kapitalverbrechen verfolgt; Bankiers und Handelsherren wegen ihres extravagant luxuriösen Lebens und ihrer Gleichgültigkeit gegen die Armen angegriffen; Glücksspiele, mit Tanzen und Singen auch andere Formen weltlicher Vergnügungen verboten. Unvergesslich blieb das große »Feuer der Eitelkeiten« auf der Piazza della Signoria, in dem Savonarolas jugendliche Anhänger alles verbrannten, was sie durch die Straßen ziehend bei den Leuten an sündigen Gegenständen eingesammelt, was die Leute aus Angst vor jenen Banden oder aus wirklicher Reue abgeliefert hatten: Spiegel, Schminktiegel, aufreizende Kleidungsstücke, Liederbücher und Noten, Musikinstrumente, Spielkarten und Würfel, Skulpturen und Gemälde mit heidnischem Inhalt, Werke antiker Poeten und so weiter.
Nach einer Weile hatte die Stadtgemeinde genug von dieser puritanischen Eiferei, und am 23. Mai 1498 wurde Savonarola mit zwei seiner maßgeblichen Mitbrüder gehenkt und anschließend an genau der Stelle verbrannt,
an der er zuvor seinen kulturkämpferischen Scheiterhaufen hatte entzünden lassen. Doch als er sich im Zenit seiner Macht befand und seine Worte die Bürgerschaft mit frommer Furcht und Reue erfüllten, widmete er einige seiner Fastenpredigten dem Angriff auf antike Philosophen, wobei er eine Gruppe unter ihnen mit besonderem Spott bedachte. »So hört, ihr Frauen«, predigte er der Menge, »sie sagen, diese Welt sei aus Atomen gemacht, aus solchen winzigen Teilchen also, die durch die Luft fliegen.« Ohne Zweifel genoss er diese Absurditäten und ermutigte seine Zuhörer zu ihrerseits lautem Spott: »Nun lacht, ihr Frauen, über die Studien dieser gelehrten Männer.« 1
In den 1490er Jahren, sechzig, siebzig Jahre nachdem Lukrez’ Gedicht wieder in Umlauf gesetzt worden war, war der Atomismus in Florenz hinreichend bekannt, um ihn zum Gegenstand spöttischen Gelächters zu machen. Die Lehre war bekannt, aber das hieß natürlich nicht, dass man sie offen für wahr erklärt hätte. Kein kluger Mensch wäre vorgetreten und hätte gesagt: »Ich denke, dass die Welt nur aus Atomen und Leere besteht, dass wir, in Leib und Seele, nur phantastisch komplexe Gebilde aus Atomen sind, die eine Zeitlang miteinander verbunden und dazu bestimmt sind, sich eines Tages auch wieder aufzulösen.« Kein respektabler Bürger hätte sagen können: »Die Seele stirbt mit dem Körper. Es gibt nach dem Tod kein Jüngstes Gericht. Das Universum wurde nicht aus göttlicher Macht für uns geschaffen, die ganze Vorstellung eines Lebens nach dem Tod ist eine abergläubische Phantasie.« Niemand, wenn er denn gerne in Frieden leben wollte, hätte sich leisten können, öffentlich zu erklären: »Die Prediger, die uns sagen, wir sollten in Furcht und Zittern leben, lügen. Gott interessiert sich nicht für unsere Taten, und auch wenn die Natur schön und verwickelt ist, so gibt es keinen Hinweis auf ein ihr zugrunde liegendes intelligentes Design. Was uns interessieren sollte, ist das Streben nach Lust, denn Lust ist das höchste Ziel des Daseins.« Niemand sagte: »Der Tod berührt uns nicht und geht uns nichts an.« Dennoch, solche subversiven, lukrezischen Gedanken waren eingesickert ins kulturelle Leben und tauchten überall dort auf, wo die Vorstellungskraft der Renaissancezeit am lebendigsten und mächtigsten war.
Zur gleichen Zeit, in der Savonarola seine Zuhörer dazu drängte, die dämlichen Atomisten auszulachen, kopierte sich ein junger Florentiner
stillvergnügt den gesamten Text von De rerum natura. Später wird man dem Einfluss dieses Textes in den berühmten Büchern nachspüren, die dieser Mann geschrieben hat, doch nicht einmal hat er das Gedicht oder seinen Autor direkt erwähnt. Dazu war er zu schlau. Die Handschrift der Kopie allerdings wurde 1961 eindeutig identifiziert: Es war die von Niccolö Machiavelli selbst, er hatte die Kopie gefertigt. Sie wird in der Bibliothek des Vatikan aufbewahrt: MS Rossi 884. 2 Gibt es einen besseren Platz für diese Frucht Poggio Bracciolinis, des apostolischen Sekretärs? Seit der Amtszeit von Poggios Freund, dem humanistischen Papst Nikolaus V, haben
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