Wende
klassische Texte einen Ehrenplatz in der Bibliothek des Vatikans.
Dennoch, die Warnungen Savonarolas beruhten damals auf realen Ängsten: Die Überzeugungen und deren Zusammenhang, die Lukrez in seinem Gedicht mit so poetischer Kraft darstellt, kann man durchaus als Lehrbuch, wenn nicht als Definition des Atheismus bezeichnen, die in dieser Vollständigkeit auch ein Inquisitor verfasst haben könnte. Der Text, der in das intellektuelle Leben der Renaissance hineinplatzte, hat eine Reihe ängstlicher Reaktionen ausgelöst, und zwar gerade bei jenen, die er besonders zu beeindrucken vermochte. Eine dieser Reaktionen war die des großen Marsilio Ficino, des Humanisten, der Mitte des 15. Jahrhunderts in Florenz lebte. Er war Mitte zwanzig, als er De rerum natura las und von diesem Text so tief beeindruckt war, dass er einen Kommentar zu dessen Autor verfasste, den er »unseren brillanten Lucretius« nannte. 3 Doch als er wieder zu Sinnen kam – will sagen, zu seinem Glauben zurückfand –, warf er seinen Kommentar ins Feuer. Nun attackierte er jene, die er »Lucretiani« nannte und verbrachte viel Lebenszeit mit seinen Platon-Studien, aus denen er schließlich eine geniale Verteidigung des Christentums entwickelte.
Eine andere Reaktion war, Lukrez’ poetischen Stil von seinen Ideen zu trennen. Das scheint auch Poggios Verfahrensweise gewesen zu sein: Er war auf die Entdeckung dieses Textes nicht weniger stolz als auf die der anderen, die er dem Vergessen entreißen konnte, doch schloss er sich dem Lukrez’schen Denken niemals an, beschäftigte sich auch nicht offen damit. In ihren lateinischen Kompositionen konnten Poggio und enge Freunde wie Niccoli elegante Ausdrucksweisen und Wendungen aus einem weiten Spektrum heidnischer Texte übernehmen, sich gleichzeitig aber vor deren gefährlichen Gedanken hüten. Tatsächlich hat Poggio in seinem späteren
Leben nicht gezögert, seinen erbitterten Rivalen Lorenzo Valla zu bezichtigen, ketzerisch Lukrez’ Lehrmeister anzuhängen, dem Materialisten Epikur. 4 Es sei, schrieb er, eine Sache, sich an Wein zu erfreuen, eine andere, dessen Lob zu singen, wie dies Valla im Dienst des Epikureismus tue. Valla gehe, indem er die Jungfrauenschaft attackiere und die Prostitution preise, sogar noch über Epikur hinaus. Die Flecken seiner frevlerischen Rede, setzt Poggio, den Gegner direkt ansprechend, dunkel drohend hinzu, »werden nicht mit Hilfe von Worten, sondern mit Feuer getilgt werden, dem du, so hoffe ich, nicht entgehen wirst.« 5
Nun könnte man erwarten, Valla würde einfach den Spieß umdrehen und darauf verweisen, es sei schließlich Poggio gewesen, der Lukrez wieder in Umlauf gebracht habe. Wenn Valla eben das nicht tat, können wir daraus schließen, dass es Poggio tatsächlich gelungen ist, von den Implikationen seiner Entdeckung diskret Abstand zu halten. Ebenso lässt sich dem wohl auch entnehmen, wie begrenzt der Kreis war, in dem De rerum natura zunächst zirkulierte. Als Valla Anfang der 1430er Jahre in einer Schrift, die er De voluptate (Von der Lust) nannte, das Lob des Trinkens und der geschlechtlichen Liebe formulierte, das Poggio so schockierend gefunden haben will, befand sich die Handschrift noch in sicherer Obhut bei Niccoli. 6 Allein das Faktum ihrer Existenz, die im Briefwechsel zwischen den Humanisten so frohgemut verkündet wurde, hat wohl dazu beigetragen, dass sich das Interesse an Epikur wieder belebte, doch musste sich Valla vermutlich auf andere Quellen und seine eigene fruchtbare Vorstellungskraft stützen, um sein Lob der Lust zu formulieren.
Interesse an einer heidnischen Philosophie zu zeigen, die derart quer stand zu fundamentalen Prinzipien des Christentums, war nicht ohne Risiko; nicht zuletzt Poggios Angriff auf Valla macht das deutlich. Dessen Replik lässt uns einen dritten Weg erkennen, wie man auf das epikureische Ferment im 15. Jahrhundert reagieren konnte. Diese Strategie könnte man als dialogische Widerlegung bezeichnen. Die Ideen, die Poggio verdamme, seien, wie Valla einräumt, in seinem Text De voluptate durchaus enthalten, aber doch nicht als seine, Vallas eigene Ideen, sondern als die eines anderen, des Teilnehmers, der in diesem literarischen Dialog den Epikureismus vertrete. Und zuletzt trage auch nicht der Epikureer den Sieg davon, sondern eindeutig die christliche Orthodoxie, der der Mönch Antonio da Rho
seine Stimme leihe: »Als Antonio so geendigt hatte, erhoben wir uns nicht sofort. Ungeheure Bewunderung für so
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