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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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religiösen Toleranz und zum Sechs-Stunden-Tag. Worum es Morus mit seiner berühmten Fabel geht, ist die Imagination der Bedingungen, die es einer ganzen Gesellschaft ermöglichen würden, das Streben nach Glück zum praktischen Ziel aller zu machen.
    Den ersten Schritt dorthin sieht Morus in der Abschaffung des Privateigentums. Andernfalls würde die Besessenheit der Menschen von »Adel, Pracht, Glanz und Majestät« unausweichlich zu jener ungleichen Verteilung des Reichtums führen, die einen großen Teil der Bevölkerung zu einem Leben in Armut, Verachtung und Verbrechen zwingt. Doch Kommunismus alleine erscheint Morus nicht ausreichend, auch gewisse Ideen wären zu verbieten. Das gilt insbesondere für die Leugnung der göttlichen Vorsehung und eines Lebens nach dem Tod: Morus lässt sie in Utopia unter strenge Strafen stellen, härteste Sklaverei eingeschlossen. 18
    Die Leugnung von göttlicher Vorsehung und Jenseits waren die beiden
tragenden Säulen von Lukrez’ gesamtem Gedicht. Insofern akzeptiert Thomas Morus den Epikureismus – auf die intelligenteste und nachdrücklichste Weise, seit Poggio De rerum natura ein Jahrhundert zuvor wiederentdeckt hatte – und operierte ihm zugleich mit aller Sorgfalt das Herzstück heraus. Alle Bürger Utopias, heißt es bei Morus, werden ermutigt, ihrer Lust zu folgen, diejenigen aber, die denken, dass die Seele mit dem Körper stirbt, und glauben, der Zufall regiere das Universum, werden verhaftet und versklavt.
    Anders als mit diesem harten Vorgehen hätte Morus das Streben nach Glück nicht darstellen können, wenn dieser Weg nicht nur einer kleinen Gruppe von Philosophen, die sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen haben, sondern nach Möglichkeit allen Menschen offenstehen sollte. Die Menschen mussten zum Allermindesten davon überzeugt sein, dass es einen alles umfassenden providentiellen Plan gebe – nicht nur im Staat, sondern in der Grundstruktur des Universums selbst –, und sie mussten gewiss davon ausgehen, dass die Normen, mit denen sie ihr Streben nach Lust regulierten und ihr Verhalten entsprechend disziplinierten, durch diesen übergeordneten, alles regelnden Plan gestützt und verstärkt waren. Und diese Verstärkung wird bewirkt vom Glauben an Lohn und Strafe im Jenseits. Auf andere Weise, glaubte Morus, sei es unmöglich, die fürchterlichen Strafen und verschwenderischen Belohnungen zu reduzieren, die seine eigene ungerechte Gesellschaft zusammenhielten. 19
    Gemessen an den Standards von Morus’ Zeit, erscheinen die Utopier erstaunlich tolerant: In ihrem Staat wird keine offizielle Religion und Lehre vorgeschrieben, es werden auch denen keine Daumenschrauben angelegt, die ihr nicht anhängen wollen. Die Bürger dürfen den Gott verehren, den sie verehren möchten, können ihren Glauben auch mit anderen teilen, können Gemeinden oder Sekten bilden, vorausgesetzt, sie tun dies auf ruhige und besonnene Weise. Keine Toleranz allerdings kennt man in Utopia gegenüber denen, die glauben, dass sich ihre Seele nach dem Tod mit dem Körper auflöst, oder die daran zweifeln, dass die Götter, wenn es für sie überhaupt welche gibt, sich für die menschlichen Angelegenheiten interessieren. Diese Menschen stellen eine Bedrohung dar, denn was sollte sie daran hindern, alles zu tun, wonach ihnen gelüstet? Was sie daran hindern könnte, wäre nach Morus allein der Glaube,
    daß die Laster nach diesem Leben bestraft werden, für die Tugend aber Belohnungen ausgesetzt sind; den, der das Gegentheil glaubt, erachten sie gar nicht für ein menschliches Wesen, als Einen, der die erhabene Natur seiner Seele bis zur Stufe eines bloß thierischen Körpers erniedrigt hat, und sie versagen ihm noch mehr Rang und Stellung eines Bürgers unter ihnen, deren Einrichtungen und Gebräuche er (wenn ihm denn die Furcht darin nicht Schranken setzte) nur »wie Luft« behandeln würde.
    (Von den Religionen der Utopier, S. 146)
    Furcht muss Schranken setzen – und solche Furcht erscheint verzichtbar allein im Garten der Philosophen, unter einer kleinen aufgeklärten Elite. Für das Gros der Gesellschaft aber ist sie unerlässlich, wenn man denn davon ausgeht, dass diese Gesellschaft von Menschen der Art bewohnt wird, wie sie tatsächlich in der Welt existieren, wie man sie seit jeher kennt. Trotz all der sozialisierenden Kraft Utopias würden, davon ist Morus überzeugt, die Menschen von ihrer Natur dazu gebracht, zu Verrat und Gewalt zu greifen, um zu erlangen, was sie

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