Wende
Marullos konnte man als warnende Geschichte verbreiten – selbst der alles andere als engstirnige Erasmus fand, Marullo schreibe, als sei er ein Heide –, das Interesse an Lukrez aber ließ sich mit solchen Mitteln nicht eindämmen. Selbst die Autoritäten der Kirche, von
denen viele mit den Humanisten sympathisierten, waren sich, was die Gefährlichkeit seines Textes anging, nicht einig. 1549 wurde vorgeschlagen, De rerum natura auf den Index zu setzen – auf jene Liste von Büchern, die zu lesen guten Katholiken verboten ist –, doch auf Drängen des mächtigen Kardinals Marcello Cervini wurde der Vorschlag nicht weiter verfolgt. (Cervini wurde ein paar Jahre später zum Papst gewählt, regierte allerdings nur kurz, nicht einmal einen Monat lang, nämlich vom 9. April bis zum 1. Mai 1555.) Auch Großinquisitor Michele Ghislieri widerstand der mehrfachen Forderung, De rerum natura zu verbieten. Er ließ Lukrez auf die Liste der Autoren setzen, die man lesen dürfe, aber nur, wenn man ihre Texte als Fabeln begreife. Ghislieri, der 1566 zum Papst gewählt wurde, widmete sein Pontifikat – von seiner Inthronisation als Pius V bis zu seinem Tod 1572 – dem Kampf gegen Häretiker und Juden, die Gefahren aber, die von heidnischen Dichtern ausgingen, verfolgte er nicht weiter.
In Gestalt von Fabeln allerdings konnten sich katholische Intellektuelle mit lukrezischen Ideen beschäftigen, und sie taten das auch. Selbst Erasmus – der, wie wir hörten, geklagt hatte, Marullo klinge »wie ein Heide« – schrieb einen Dialog mit dem Titel Der Epikureer. Hedonius, einen der beiden fiktiven Gesprächspartner, lässt er sagen: »Aufrichtig, niemand ist mehr Epikureer als die Christen, die fromm leben.« Natürlich wendet Gesprächspartner Spudaeus ein, niemandes Leben sei doch »von den Genüssen« weiter entfernt als das derjenigen, die »sich mit Fastenübungen quälen, ihre Missetaten beweinen« und so weiter. Gleichwohl, erwidert Hedonius, versuchten sie ein anständiges Leben zu führen, und »nichts ist glücklicher als ein gutes Gewissen«. 14
So löst Erasmus das Paradox – auf eine Weise, die wie ein rhetorischer Taschenspielertrick wirkt; Erasmus’ Freund Thomas Morus dagegen hat die Auseinandersetzung mit dem Epikureismus in seinem berühmtesten Werk Utopia (1516) sehr viel weiter getrieben. Morus war ein gebildeter Mann, bestens vertraut mit den heidnischen, griechischen und lateinischen Texten, die Poggio und seine Zeitgenossen wieder in Umlauf gebracht hatten, zugleich aber auch ein frommer christlicher Asket, der unter seinen Gewändern ein härenes Gewand trug und sich geißelte, bis das Blut floss. Sein denkerischer Wagemut und seine niemals müde Intelligenz erlaubten ihm, die Kraft dessen zu begreifen, was da aus antiken Zeiten
wieder heranwogte, doch gleichzeitig ließen ihn katholische Überzeugungen und seine religiöse Inbrunst auch die Grenzen ziehen, über die hinauszugehen er für sich wie für alle anderen zu gefährlich fand. Will sagen, er erforschte die verborgenen Spannungen in Selbstverständnis und Identität, die er sich selbst als »christlicher Humanist« zuschrieb, sehr genau.
Utopia setzt ein mit einer ätzenden Verurteilung Englands als eines Landes, in dem die Adligen müßig von der Arbeit anderer lebten und ihre Pächter bis aufs Blut auspressten, indem sie kontinuierlich die Pacht erhöhten; wo die Einhegung des Grundes als Schafsweiden unzählige tausend Menschen in ein Leben in Hunger und Verbrechen treibe; wo die Städte umgeben seien von Galgenfeldern, auf denen Diebe massenweise gehenkt würden, ohne dass es den kleinsten Hinweis darauf gebe, dass diese drakonischen Strafen irgendjemanden davon abhielten, die gleichen Verbrechen zu begehen.
Dieser Beschreibung einer schaurigen Wirklichkeit – Holinshed, der Chronist des 16. Jahrhunderts, berichtet, dass unter der Herrschaft Heinrichs VIII. um die zweiundsiebzigtausend Diebe gehenkt worden seien – setzt Morus die Schilderung einer fiktiven Insel entgegen, Utopia genannt – u-topos heißt griechisch »kein Ort« –, deren Einwohner überzeugt sind, »daß alle unsere Handlungen und damit die Tugenden selber, ausschließlich das Vergnügen und die Glückseligkeit zum Endziel haben«. ( Utopia , 2. Buch, Vom Reisen der Utopier, S. 103) 15 Dieser epikureische Grundsatz macht den wesentlichen Unterschied aus zwischen der guten Gesellschaft der Utopier und der verdorbenen, lasterhaften im England zu Morus’
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