Wende
lag: Sobald man die Behauptung ernst nimmt, dass selbst der Sturz eines Sperlings oder die Zahl der Haare auf unserem Kopf Angelegenheiten göttlicher Vorsehung seien, gibt es überhaupt keine Grenze mehr, dann gehören in der Sonne tanzende Stäubchen ebenso ins Aufgabenfeld der Vorsehung wie die Konjunktionen der Planeten oben am Himmel. »O Merkur«, sagt Sofia mitleidig, »du hast wirklich eine Menge zu tun, wenn du mir alle Akte der Vorsehung, welche Vater Zeus ausführt, herzählen willst.«
Abermillionen Zungen brauchte es, wie Sofia erkennt, um all das zu beschreiben, was in einem einzigen Moment in nur einem einzigen winzigen Flecken in der Campagna geschieht. Allein darum ist Zeus nicht zu beneiden. Doch kann, wie Merkur vorführt, die ganze Angelegenheit auf diese Weise überhaupt nicht funktionieren: Denn es gibt gar keinen Schöpfer oder Werkmeistergott, der außerhalb des Universums stünde und dort, Kommandos brüllend, Lohn und Strafe austeilend, alles bestimmt und
regelt. Die ganze Vorstellung sei schlicht absurd. Natürlich gibt es eine Ordnung im Universum, aber sie ist eingebaut in die Natur der Dinge, in die Materie, aus der sich alles Seiende, von den Sternen über die Menschen bis zu den Bettwanzen, zusammensetzt. Natur ist keine abstrakte Fähigkeit (dies oder das zu sein), sondern eine schöpferische Mutter, die alles hervorbringt, was ist. Mit anderen Worten: Wir befinden uns mitten in Lukrez’ Universum.
Für Bruno war dies kein Ort melancholischer Desillusionierung und Entzauberung. Im Gegenteil, er fand die Erkenntnis aufregend, dass die Welt in Raum und Zeit grenzenlos ist, dass die größten Dinge aus den kleinsten gemacht sind, den Atomen, dass die Bausteine all dessen, was ist, das Eine und das Unendliche miteinander verbinden. Die Welt, schreibt er, ist gut, wie sie ist. Und wie Spinnweben wischt er die unzähligen Lügengespinste beiseite, die auf Kummer, Schuld und Buße beruhen. Sinnlos sei es, das Göttliche im blutunterlaufenen und zerschlagenen Leib des Sohnes zu suchen, sinnlos auch, darauf zu hoffen, man werde in irgendeinem entfernten Himmel Gottvater begegnen.
So sind wir befähigt, die unendliche Wirkung der unendlichen Ursache zu entdecken, die wahre und lebendige Spur der lebendigen Kraft. Wir brauchen die Gottheit nicht in der Ferne zu suchen, denn sie ist uns nahe und sogar tiefer in uns als wir selbst. 23
Mit philosophischer Heiterkeit nahm er auch sein alltägliches Leben. Er sei, so ein Florentiner Gefährte, »ein wunderbarer Tischgenosse, ganz dem epikureischen Leben hingegeben«. 24
Wie Lukrez warnte auch Bruno, niemand solle seine ganze Fähigkeit des Liebens und Sehnens auf ein einziges Objekt obsessiven Verlangens richten. Es sei vollkommen in Ordnung und gut, ein körperliches sexuelles Verlangen zu erfüllen, jedoch absurd, dieses Verlangen mit dem nach letzten Wahrheiten zu vermengen, nach Wahrheiten, die nur die Philosophie – die nolanische natürlich – verschaffen könne. Nicht, dass deren Wahrheiten abstrakt und unkörperlich seien, im Gegenteil. Bruno war vielleicht der Erste nach mehr als einem Jahrtausend, der die volle, die zugleich philosophische wie erotische Kraft des Lukrez’schen Hymnus an
Venus erfasst hat. Das Universum in seinem endlosen Prozess des Schaffens und wieder Zerstörens ist in sich sexuell.
Bruno empfand den militanten Protestantismus, dem er in England und anderswo begegnete, als ebenso bigott und engstirnig wie den Katholizismus der Gegenreformation, vor dem er geflohen war. Sektiererischer Hass in allen seinen Spielarten erfüllte ihn mit Abscheu. Was er schätzte, war der Mut, sich für die Wahrheit zu erheben, sich gegen die aggressiv Engstirnigen zu stellen, die allzeit bereit sind niederzubrüllen, was sie nicht verstehen können. Diesen Mut fand er in herausragender Weise bei Kopernikus, dem Astronomen, der, wie Bruno formulierte,
von den Göttern dazu bestimmt (war), wie die Morgenröte der aufgehenden Sonne der wahren alten Philosophie vorauszugehen, die so viele Jahrhunderte in den finsteren Höhlen der blinden, boshaften, dreisten und neidischen Unwissenheit verborgen lag. 25
Kopernikus’ Behauptung, die Erde stehe nicht fixiert im Mittelpunkt des Universums, sondern bewege sich als Planet in einer Umlaufbahn um die Sonne, war, als Bruno sie feierte, noch eine skandalöse Angelegenheit, Anathema sowohl für die Kirche wie für das akademische Establishment. Und Bruno gelang es, den Skandal der
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