Wende
radikalen Epikureismus akzeptiert haben, sofern sie ihn in seiner Tragweite überhaupt begriffen haben. So etwa wurde dem Florentiner Dichter Luigi Pulci 1484 ein christliches Begräbnis verweigert, weil er Wunder geleugnet und gesagt hatte, die Seele sei »nicht mehr denn ein Pinienkern in einem heißen Brot«. 13 Doch viele der mutigsten Geister der Renaissance nahmen die Ideen, die ab 1417 mit der Wiederentdeckung von Lukrez’ Gedicht auftauchten, nicht als ausformuliertes philosophisches oder ideologisches System wahr; das Gleiche gilt für Epikur, an dessen Denken das Interesse gerade wieder erwacht war. Allerdings waren die Lukrez’schen Ansichten zur Natur der Dinge, die in durch ihre Schönheit so verführerische Verse verpackt waren, eine tiefe geistige und schöpferische Herausforderung.
Was zählte, war nicht Festhalten, sondern Beweglichkeit – und für Bewegung sorgte dieses Gedicht, das über viele Jahrhunderte unberührt in einer, höchstens zwei Klosterbibliotheken gelegen hatte. Die geschmeidigen Argumente Epikurs waren zunächst von Heiden, die nichts davon wissen wollten, dann von ebenso ablehnenden Christen unterdrückt worden. Und nun entwickelten sie die Beweglichkeit von Tagträumen, halbgaren Spekulationen, geflüsterten Zweifeln, gefährlichen Gedanken.
Poggio mochte sich distanziert haben von dem, was De rerum natura inhaltlich bedeutete, den entscheidenden Schritt hat er gleichwohl getan, indem er das Gedicht aus dem Regal zog, es kopieren ließ und seinen Freunden in Florenz die Kopie zuschickte. Sobald es wieder zu zirkulieren begann, bestanden die Schwierigkeiten nicht in der Lektüre (vorausgesetzt, man verfügte über genügend Latein), sondern sie begannen, wenn man das Gelesene offen diskutieren, die Inhalte ernst nehmen wollte. Valla hat einen Weg gefunden, indem er ein zentrales epikureisches Argument – das Preisen der Lust als oberstes Gut – in einem Dialog zustimmend artikulieren ließ. Er hat es zu diesem Zweck herausgelöst aus dem philosophischen Gesamtgebäude, das ihm ursprünglich Gewicht verlieh, und so konnte es dann auch zurückgewiesen werden. Doch der Epikureer aus Vallas Dialog verteidigt die Lust derart energisch, subtil und überzeugend, wie man dies seit einem Jahrtausend nicht hatte lesen können.
Im Dezember 1516 – fast ein Jahrhundert nach Poggios Entdeckung – hat die Synode von Florenz, eine einflussreiche Gruppe hoher Kleriker, verboten, Lukrez in den Schulen zu lesen. Es mochte Lukrez’ ausgezeichnetes Latein gewesen sein, das Schullehrer dazu veranlasst hatte, Schülern diesen Text vorzulegen; verboten jedoch wurde er, wie die Kleriker verfügten, als »laszives, verderbtes Werk, dem jedes Mittel recht ist, die Sterblichkeit der Seele zu beweisen«. Denen, die dem Edikt zuwiderhandelten, drohten ewige Verdammnis und eine Strafe von zehn Florin.
Dieses Verbot wird die Zirkulation des Buches erschwert haben, es hat auch die weitere Drucklegung des Werks in Italien gestoppt, doch es kam zu spät, die Tür war nicht mehr zuzudrücken. Eine Ausgabe war bereits in Bologna erschienen, eine zweite in Paris, eine dritte in Aldus Manutius’ berühmter Presse in Venedig. Auch in Florenz kam eine Ausgabe heraus, beim renommierten Verleger Filippo Giunti, herausgegeben von Pier Candido, den Poggio aus seiner Zeit am Hof Nikolaus’ V. gut kannte.
Die Giunti-Ausgabe enthielt Emendationen, die der bemerkenswerte Michele Tarchaniota Marullo, Soldat, Gelehrter und Dichter griechischer Herkunft, besorgt hatte. Botticelli hat ein Porträt des Mannes gemalt, der in italienischen Humanistenkreisen wohl bekannt war. Marullo hat im Lauf seiner unruhigen Karriere wundervolle heidnische Hymnen verfasst, inspiriert von Lukrez, mit dessen Werk er sich mit bemerkenswerter Intensität beschäftigt hat. 1500 ließ er sich die Schwierigkeiten des Textes von De rerum natura durch den Kopf gehen, als er von Volterra aus in voller Rüstung gegen die Truppen ins Feld ritt, die Cesare Borgia an der Küste bei Piombino sammelte. Es regnete heftig, und die Bauern rieten ihm, nicht durch die angeschwollene Cecina zu reiten. Eine Zigeunerin, so soll er ihnen geantwortet haben, habe ihm als Kind geweissagt, er müsse sich nicht vor Neptun, wohl aber vor Mars in Acht nehmen. Mitten im Fluss glitt sein Pferd aus und begrub ihn unter sich. Mit einem Fluch auf die Götter soll er gestorben sein; in seiner Tasche fand man ein Exemplar von Lukrez’ Gedicht.
Die Todesumstände
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