Wende
Zeit. Dieser hat also erfasst, dass das Lustprinzip – das Prinzip, das seinen kraftvollsten Ausdruck in Lukrez’ großartiger Hymne an Venus gefunden hat – nicht nur eine verschönernde Bereicherung der alltäglichen Existenz ist, sondern eine radikale Idee, die, nähme man sie ernst, das ganze Leben umstürzen und verändern würde.
Morus hat sein Utopia in entfernte Weltgegenden verlegt. Sein Entdecker, heißt es zu Beginn des Werks,
schloß sich, um Land und Leute zu studieren, dem Amerigo Vespucci an und hat von jenen vier Seereisen, die man heutzutage bereits dort und da gedruckt lesen kann, drei als sein ständiger Begleiter mitgemacht,
ist aber von der letzten nicht mit ihm zurückgekehrt. Er erreichte mit bringenden Bitten von Amerigo, daß er unter den Vierundzwanzig war, die bis ans Ende der letzten Fahrt in einem Kastell zurückgelassen wurden. (1. Buch, S. 28)
Morus, der Amerigo Vespuccis Reisebriefe gelesen hatte, bezieht sich auf die neu entdeckten Länder, die zu dessen Ehre »Amerika« genannt wurden, und dabei insbesondere auf eine Beobachtung, die Vespucci bei den Völkern machte, auf die er dort stieß: »Insofern ihr Leben so sehr dem Vergnügen gewidmet ist«, hatte er geschrieben, »sollte ich es epikureisch nennen«. 16 Morus muss schlagartig klargeworden sein, dass er die erstaunlichen geographischen Entdeckungen nutzen konnte, um einige der beunruhigenden Ideen zu erkunden, die mit Lukrez’ De rerum natura wieder in Umlauf gekommen waren. Diese Verknüpfung ist nicht rundum überraschend. Der Florentiner Vespucci gehörte selbst zum Kreis der Humanisten, in dem De rerum natura von Hand zu Hand ging. Die Utopier, schrieb Morus, hielten nur das Vergnügen für nicht erlaubt, »welches Schmerz im Gefolge hat« (S. 101). Und ihr Verhalten sei nicht nur eine Sache der Sitte, es folge einem philosophischen Standpunkt. In der Frage, »worin, ob in einem Dinge oder in mehreren, die Glückseligkeit der Menschen bestehe ... schlagen sie sich wohl allzusehr auf Seiten derjenigen Partei, welche das menschliche Glück entweder überhaupt oder doch den wesentlichsten Theil desselben im Vergnügen sieht« (S. 100). Diese Partei oder »Schule«, wie es im englischen Text heißt, ist die des Epikur und des Lukrez.
Indem er, was er schildert, in den entferntesten Winkel der Welt verlegt, konnte er etwas zum Ausdruck bringen, was seinen Zeitgenossen zu sagen äußerst schwerfiel: Die von den Humanisten wiederentdeckten heidnischen Texte waren zwingend und lebensbejahend und zugleich vollkommen abseitig und verrückt. Nach Jahrhunderten fast völliger Vergessenheit waren sie dem Kreislauf des europäischen Denkens wieder eingeflößt worden und repräsentierten darum keine Kontinuität, waren auch keine einfache Rückerstattung, sondern bewirkten vielmehr tiefe Beunruhigung. 17 Tatsächlich klangen diese Texte wie Stimmen aus einer anderen Welt – einer Welt, die von der zeitgenössischen ebenso verschieden war
wie Vespuccis Brasilien von England. Ihre Wirkmacht bezogen sie ebenso sehr aus ihrer Fremdheit wie aus ihrer luziden Beredsamkeit.
Dass er die Neue Welt heraufbeschwor, erlaubte es Morus, eine zweite wesentliche Reaktion auf die Texte zu artikulieren, die die Humanisten so begeisterten. Er bestand darauf, dass man sie nicht als isolierte philosophische Ideen begriff, sondern als Ausdruck einer ganzen Lebensweise, eines Lebens, das unter besonderen physischen, historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Umständen geführt wurde. Die Beschreibung des Epikureismus der Utopier war für Morus nur sinnvoll, insofern er sie in den Zusammenhang einer ganzheitlichen Existenz und Lebensform stellte.
Diese aber, so Morus, gebühre allen Menschen, und das müsse auch so sein. Insofern macht Morus ernst mit der Einsicht, die sich in De rerum natura so leidenschaftlich Bahn bricht: Verhielten die Menschen sich Epikurs Philosophie entsprechend, wäre die gesamte Menschheit aus ihrem erbärmlichen Elend zu befreien. Anders gesagt: Morus macht Ernst mit der Universalität, dem Ursinn des griechischen Wortes katholikos. Einem Epikureer würde es nicht genügen, eine kleine Elite in ihrem umhegten Garten zu erleuchten und aufzuklären, der Epikureismus gilt der Gesellschaft als Ganzer. Utopia ist ein visionärer Masterplan, detailliert und stets mit Blick auf seine Umsetzung ausgeleuchtet, er reicht vom öffentlichen Wohnungsbau bis zur umfassenden Krankenversorgung, von Kinderkrippen bis zur
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