Weniger sind mehr
Wunschkind, werden unweigerlich mitgeliefert, auch wenn sie weniger erwünscht sind. Der subversivste Wert, den der Westen in die Welt liefert, ist das bohrende Fragen und der Wunsch nach Aufklärung. Dies trifft die traditionalen Kulturen, die ja auch ihre Stabilisierungsmechanismen haben, an einem Punkt, den niemand sieht und dessen Verteidigung schwer ist.
Die zweite Strategie des Westens ist die Akkulturation von Migranten. Je vielfältiger die Herkunftskulturen der Migranten, je besser sie durch die Vorwärtsverteidigung des Westens auf seine Kultur eingestimmt sind, je unmittelbarer sie sich in sein Arbeitsleben – und nicht, wie vielfach in Deutschland, in die Sozialhilfe – integrieren; je stärker wir ihnen, wie in den angelsächsischen Einwanderungsländern, die Integration und deren Scheitern selbst überlassen und nicht durch einen paternalistischen Staat abnehmen, desto leichter werden sie zu Trägern der aufnehmenden Kultur.
Trotzdem, so attraktiv und wirkkräftig die aufnehmende Kultur in ihrer Mehrheitsmacht ist, sie kommt nicht ungeschoren davon. Sie kann von den Einwanderern nicht nur verlangen, dass sie ihre jeweilige Herkunftskultur – in Teilen – ablegen; sie muss auch selbst etwas aufgeben. Akkulturation, wie alle anderen Sozialprozesse, ist ein Geben und Nehmen. Und oft ist es die stärkere, aufnehmende Kultur, die als erste gibt und den Neuankömmlingen entgegenkommt, etwa beim Bau von Moscheen. Die Gegenleistung ist weniger das lauthals geforderte Bekenntnis zum Grundgesetz und zur Toleranz; sie wird den Einwanderern eher unter der |34| Hand abverlangt: mit all den Genehmigungs-, Anhörungs- und Diskussionsverfahren, die dem deutschen Recht, den deutschen Verwaltungsverfahren, den deutschen Lehrplänen innewohnen und beim Bau einer Moschee ebenso wie beim Islamunterricht in deutscher Sprache praktiziert und verinnerlicht werden. Sie machen aus den beteiligten Muslimen Personen deutscher Öffentlichkeit, deutscher politischer Kultur, deutscher Bildung.
Trotzdem: Die Erfolgsgeschichte der Akkulturation, nicht nur in Amerika und Australien, sondern auch in den europäischen Staaten der letzten 40 Jahre, nimmt man hierzulande kaum wahr. Sie wird überschattet von einer neuen Angst vor Islamismus und Terrorismus – negative Gegenbewegungen auf dem Weg zur Weltgesellschaft. Trotz allen Schreckens ist dies jedoch nur eine Randerscheinung eines größeren Akkulturationsprozesses. Frankreich, Großbritannien und Deutschland – von den USA ganz zu schweigen – haben sich mit Einwanderungen nicht nur Fremdartigkeit und Gewalt eingehandelt, sondern auch, und in viel größerem Maße, Bürger, die bessere Franzosen, bessere Deutsche sind. Die Selbsterhaltung der Kultur, die so zwang- und reibungslos über die Geburt und das Heranwachsen eigener Kinder funktioniert, kann nicht auf sie verzichten. Wenn die Geburtenrate fällt, hat die Kultur allerdings, zur Kompensation, genügend andere Pfeile im Köcher.
Was aber ist mit der
Familie
? Auch sie hat ihre Selbsterhaltungsstrategien. Wenn sie, aufgrund der Geburtenrate, schrumpft, finden sich zahlreiche Kompensationsmechanismen: von der Adoption und Fertilitätsmedizin über die Rückwendung auf die Herkunftsfamilie bis zur Neubildung von Patchwork-, Homosexuellen-, Freundes- und Zweckfamilien. Eine ehemalige Unternehmerin bringt in einem Künstlerhaushalt Ordnung ins Chaos der Rechnungen, der Steuern, der Versicherungen und wird von einer bezahlten Kraft zur Vertrauensperson und zum Familienmitglied. Die Beispiele, wie sich Familien nicht nur in Marktbeziehungen verwandeln, sondern umgekehrt aus Marktbeziehungen |35| Familien werden, häufen sich. Bisher hat sich allerdings kaum ein Forscher darum gekümmert.
Quantitative Dimensionen verblassen, wenn man die Frage stellt, wie die Familie sich qualitativ stabilisiert. Sie wird besser, wenn ein Teil der Familien verschwindet, wenn nur ein Teil der Bevölkerung Familien gründet und wenn die Kinderzahl niedrig ist. Wenn Kinder heute nicht geboren werden, dann deshalb, weil ihre Eltern sich sozial hoffnungslos fühlen; weil Kinder viel Geld kosten; weil sie Lebenschancen einschränken (Ökonomen nennen das Autonomitätskosten); und weil die Liebesansprüche der Partner aneinander und an die Kinder hoch sind. Moderne Eltern sind späte Eltern, die sorgfältig überlegt haben. Von Nicht-Eltern und früheren Eltern unterscheiden sie sich dadurch, dass sie hohe Kosten nicht scheuen, auf Gelegenheiten
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