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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Sozialsysteme dabei eine Rolle gespielt haben.
    Im Augenblick können wir uns kaum vorstellen, dass das Absinken der Geburtenrate, von Europa ausgehend und in alle Kulturen der Welt sich ausdehnend, sich in absehbarer Zeit rückgängig machen ließe. Oder wäre es denkbar, dass die postindustriellen Gesellschaften des Westens oder die dynamisch-industrialisierenden des Ostens sich noch einmal auf ein demografisches Muster einlassen könnten, wie es südlich der Sahara mit höchsten Sterbe- und Geburtenraten herrscht? Denkbar ist vielmehr, dass die Fertilitätsraten sich weltweit, um eine Ziffer zu nennen, zwischen 1 und 2,5 einpendeln. Für die Politik Anlass zur Gelassenheit und zu einer Rück- und Vorausbesinnung auf die Selbststabilisierung |40| der Sozialsysteme, mit denen sie es in der modernen Welt zu tun hat. Wenn die sozialen Systeme so viel selbst können und auch vor dem Schrumpfen keine Angst zu haben brauchen, wäre das auch die Grundlage für einen modernen Liberalismus.
    Die Schausteller der demografischen Gruselkabinette – kinderlose, vergreisende, schrumpfende Gesellschaft – mögen inzwischen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt weiterziehen. Die Angst, von der sie leben, wird sich abnützen wie viele andere Ängste vorher und muss schließlich ohnehin neuen Ängsten Platz machen.

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    |41| Kapitel 2
Die Wirklichkeit der Wirtschaft – steigende Produktivität und fallende Reproduktion
    Alles hängt mit allem zusammen, vermuten wir. Wächst die Bevölkerung, wächst die Wirtschaft, ebenso steigen die Mittel für die soziale Sicherheit, die kulturelle Bedeutung und die politische Macht einer Gesellschaft. So denken wir intuitiv. Unser Verstand ist auf Zusammenhänge ausgerichtet, und dabei sogar, noch simpler, auf Gleichrichtung. Was wir aber auf diese Weise erkennen, ist allenfalls die Halbwahrheit. In Wirklichkeit gilt auch: Alles ist voneinander getrennt und schottet sich gegeneinander ab. Ferner: Zusammenhänge, wo sie bestehen, können statt gleichgerichtet auch gegenläufig sein: Die Bevölkerung wächst – und Wirtschaftskraft, kulturelle Bedeutung, politische Macht und so weiter gehen zurück.
    Betrachten wir das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Wirtschaftskraft genauer. Wir müssen dafür beständig gegen die vorprogrammierte Gleichrichtung unseres Denkens andenken; in diesem Falle gegen die These: Wenn die Bevölkerung schrumpft, dann schrumpft auch die Wirtschaft – oder positiv gewendet: Wächst die Bevölkerung, dann tut dies der Wirtschaft gut. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert hat sich diese Sicht des Fortschritts eingenistet: »Es gibt weder Wohlstand noch Macht außer durch Menschen«, erklärte schon im 16. Jahrhundert der Staatstheoretiker Jean Bodin (1529/30–1596). Er war einer der Wortführer der »Populationisten«. Fortschritt durch Bevölkerungswachstum, lautete ihr Motto. Wie sehr wir ihm bis heute intuitiv folgen, erkennen wir an dem Unbehagen, das |42| die Prognosen einer »schrumpfenden Bevölkerung« in uns auslöst.
    Die Lehre der »Malthusianer« hat dagegen ihren Schrecken verloren: Thomas Robert Malthus (1766–1834) fürchtete, dass die Bevölkerung stärker wachse als die Wirtschaft, die durch das »Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag« gebremst werde. Um der Verelendung, besonders der ärmeren Klassen, vorzubeugen, forderte er eine Beschränkung der Geburtenzahl. Bis vor wenigen Jahren war dies die herrschende Philosophie derjenigen, die sich mit dem Wachstum der Weltbevölkerung, insbesondere in den Entwicklungsländern, beschäftigten. Bis heute steht diese Philosophie hinter der Politik der Geburtenkontrolle des Weltbevölkerungsfonds der UN und der Ein-Kind-Politik Chinas.
    In den industrialisierten Ländern dagegen hat sich der Wind gedreht und bläst dem Malthusianismus ins Gesicht. Hier geht heute die Angst um, dass zu wenig Menschen geboren werden, um das Schwungrad der Wirtschaft in Gang zu halten. Dass Bevölkerungswachstum die Wirtschaft antreibe, ist für uns zu einer Art
common sense
geworden. Deshalb richtet sich alles Denken auf die Erhöhung der Geburtenrate – obwohl eine weltweite Untersuchung von 134 Ländern zu dem Ergebnis kommt, dass sozioökonomisches Wachstum zurückgeht, wenn die Geburtenraten steigen. 1
    Tatsächlich sind die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf das Wirtschaftswachstum ungewiss, umstritten, wahrscheinlich von Fall zu Fall und abhängig vom Entwicklungsstand verschieden und schließlich gar

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