Weniger sind mehr
erschaffen werden. Dass Outsourcing nicht nur eine Option für die Produktion von Weizen, Oberhemden, Computerchips und elektronischen Telefonbüchern, sondern auch für die Reproduktion der eigenen Lebensformen und ihrer lebendigen Träger ist, erscheint uns zwar mehr als befremdlich, und doch ist es so. Die kinderreichen Kulturen brennen darauf, ihre Kinder in den produktiven Teil der Welt mit seinen hervorragenden soziokulturellen Problemlösungen zu entsenden. Diese nehmen die reproduktive Unterstützung gern an. Die neue Arbeitsteilung zwischen produktiven und reproduktiven, kinderarmen und kinderreichen Gesellschaften gilt womöglich nur für eine Übergangsphase von circa 100 Jahren. Nach und nach werden alle Kulturen sich umstellen: von einer breiten Reproduktionsbasis mit hoher Sterblichkeit auf eine schmale Basis lang lebender Individuen.
Wenn es denn dazu kommt. Vorläufig spricht alles dafür. Sterberaten |38| fallen weltweit, ebenso die Geburtenraten. Das weltweite Schrumpfen der Erdgesellschaft beginnt erst nach und nach. Die Vergreisung ist aber schon in vollem Gange. Sie schreitet dort am schnellsten voran, wo die Industriegesellschaft eine neue Dynamik entwickelt. Vergreisung, die zuerst die westlichen Industrienationen dynamisierte, erfasste dann Japan, später die Tigerstaaten und Teile Südamerikas, heute Indien und China. Der Anteil der über 60-Jährigen stieg dort von 10 auf über 30 Prozent, in Indien von 8 auf über 20 Prozent, wenn man bis 1950 zurückrechnet. Sieht man den reproduktiven Erfolg allein in der Zahl der Individuen, die eine Spezies hervorbringt, dann könnte man darin in absehbarer Zeit das Abendleuchten der Menschheit und ihrer Erfolgsgeschichte erkennen. Aber selbst Evolutionsbiologen hängen nicht so sehr an den Zahlen wie von Biologistik inspirierte Demografen.
Für Biologen, auf der Suche nach den Mechanismen reproduktiven Erfolgs – sei es für Individuen, Verwandtschaft, die Spezies insgesamt oder neuerdings im Neodarwinismus für das egoistische Gen –, gibt es immer zwei Strategien des Überlebens. Die »r-Strategie« durch viele Nachkommen, die riskant und kurz leben, oder die »K-Strategie« durch wenig Nachkommen, die lange leben. 6 Die erste sichert Reproduktion durch Quantität, die zweite durch Qualität. In der Stammesgeschichte des Menschen hat sich die Qualitätssicherung durchgesetzt. Die menschliche Spezies, zunächst quantitativ überaus erfolgreich, hat selbst einen Umschlag von der Quantität in der Qualität erfahren. So etwas ist meines Wissens von keiner anderen Lebensart bekannt. Die Verlängerung der individuellen Leben und die Verminderung der Geburten, die seit mehr als 200 Jahren anhält, setzt Lebensqualität voraus, die es früher so nicht gegeben hat. Sie sind das Ergebnis von Wissenschaft, Medizin, Hygiene, Technik, ökonomischer und politischer Organisation, moralischer Reflexion – kurz von soziokulturellen Errungenschaften, nicht von natürlichen Gegebenheiten. Die größte und am wenigsten erforschte Errungenschaft ist wahrscheinlich die Selbststeuerung soziokultureller Systeme.
|39| Die Politik ist ihrerseits ein selbststabilisierendes System. Was sie tut, macht sie zunächst einmal zu ihrem eigenen Nutzen und Erhalt. Es ist zwar »für« andere Systeme bestimmt, kommt aber angesichts von deren Feinheiten der Selbststeuerung dort relativ plump an. So kämpft die Politik nicht nur gegen den Eigensinn sozialer Mitsysteme und gegen die Individuen, die durch ihre Rollenteilhabe an den verschiedenen Systemen sowohl diese selbst als auch Weitergreifenderes vertreten. Sie kämpft auch gegen einen Gegner von noch größerer Macht: die Umstellung der Menschheit auf einen neuen Modus soziokultureller Reproduktion.
Man darf gespannt sein, wie sich politische Maßnahmen zur Geburtensteigerung angesichts so mächtiger Gegner bewähren. Dass sie sich als Irrtum herausstellen können, macht sie nicht an sich irrational. Das soziale Leben verläuft nun einmal über Prozesse von Versuch und Irrtum. Und die Politik kann sich nicht – angesichts der Erwartungen an sie – auf ein Niemandsland zurückziehen. Sie ist hinsichtlich jedes Problems ein Player, meist auch ein Global Player. Sollte der Fall der Geburtenrate in Deutschland, in Europa oder in anderen Teilen der Welt an einem bestimmten Punkt gestoppt und umgekehrt werden, wird es immer eine ungeklärte Frage bleiben, wie weit die Vorstellung der Politik oder die Eigenlogik anderer
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