Wenn alle Schranken fallen
Lydia hielt den Kopf gesenkt und schaute auf ihre gefalteten Hände. “Du wolltest mich sehen?”
Ruth reichte ihrem Sohn die Kaffeetasse. “Setz dich. Du musst halb erfroren sein.” Anschließend wandte sie sich an ihren Gast: “Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich habe noch einiges zu stopfen, also sehe ich mir eine Seifenoper an, solange ihr beide euch unterhaltet.”
Anscheinend hat Lydia geweint, stellte Gordon fest. Ihre Augen glänzten verräterisch und waren dunkel umschattet. Aber sie war schön. Hier in der Küche des Farmhauses ebenso wie in ihrem Schlafzimmer. Genauso hinreißend und begehrenswert in marineblauer Hose mit rotem Pullover wie in dem elfenbeinfarbenen Morgenmantel aus Seide.
“Ich hätte nicht erwartet, dich wiederzusehen. Ganz bestimmt nicht hier draußen auf der Farm.” Gordon stellte den Becher auf den Tisch, zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.
Den Blick zu Boden gerichtet, antwortete Lydia: “Wenn es nicht wichtig wäre, wäre ich nicht gekommen.”
“Na ja, als ich deinen Wagen draußen geparkt sah, dachte ich, Haraway hätte dich wegen Ma hergeschickt.” Gordon umklammerte den Becher in seiner Hand und beobachtete den aufsteigenden Dampf.
“Dieser Besuch hat nichts mit Glenn oder dem neuen Einkaufszentrum zu tun. Er ist privat.” Sie zwang sich aufzublicken, direkt in Gordons braune Augen. Ihr Atem beschleunigte sich, ihr Herz raste, ihr Magen krampfte sich zusammen. Gordon sah sie an wie eine Fremde. Bedeutete ihm das, was sie miteinander erlebt hatten, denn überhaupt nichts?
“Klingt ernst. Du bist doch nicht den ganzen Weg hier raus gekommen, um mich zu deiner Hochzeit einzuladen, oder?”
Lydia wurde blass. “Welche Hochzeit?”
“Wie meine Schwägerin mir erzählt hat, warten alle gespannt darauf, dass du und Haraway eure Verlobung verkündet.” Konzentriert rührte Gordon in seinem Kaffee, legte den Löffel auf den Tisch und nahm seine Tasse auf.
“Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Glenn und ich sind gute Bekannte. Er … er war Tylers bester Freund.”
“Was willst du dann? Hatten wir uns nicht geeinigt, es wäre das Beste, wenn wir uns aus dem Weg gehen?”
Tränen verschleierten Lydias Blick, fest hielt sie die Hände vor sich gefaltet, ihre Unterlippe zitterte. “Das haben wir, aber es gibt etwas, das du wissen solltest.” Entschlossen schob Lydia den Stuhl zurück und stand auf.
“Ich höre.”
“Weißt du, fast wäre ich nicht hergekommen. Ich habe sogar überlegt, ob ich nicht nach Birmingham zurückkehren soll.”
Ein harter Knoten formte sich in seiner Magengrube. “Was genau willst du damit sagen?”
“Ich bin schwanger. In der sechsten Woche.”
Noch bevor die Worte ausgesprochen waren, wusste Gordon, was kommen würde. Er hatte es geahnt! In jener Nacht hatte er den Kopf verloren. Unvorbereitet war er zu ihrem Haus gefahren. Dreimal hatte er sie geliebt, ohne jeden Gedanken an Verhütung. Seit Jahren war er nicht so leichtsinnig gewesen.
“Bist du sicher?”
“Gestern war ich bei einem Arzt in Corinth.” Der Zweifel in seinen Augen war unerträglich. Er glaubte ihr nicht! Dachte Gordon wirklich, sie würde sich dieser Demütigung aussetzen, wenn sie sich nicht hundertprozentig sicher wäre?
“Du wolltest wohl nicht, dass irgendjemand in der Stadt Vermutungen anstellt, was?” Vielleicht war sie tatsächlich schwanger. Vielleicht war es Haraways Kind … zur Hölle, falls sie schwanger ist, dann nicht mit Haraways Kind! Gordon wusste verdammt genau, dass es seins war. Lydia war keine Frau, die mit zwei Männern zur gleichen Zeit ins Bett ging.
“Als ich dem Arzt sagte, ich wäre unverheiratet, hat er mir meine Möglichkeiten aufgezählt.”
“Abtreibung?”
“Das oder Adoption oder alleinerziehende Mutter zu werden.”
“Wenn du in Riverton ein uneheliches Kind bekommst, werden dich die sogenannten anständigen Leute auf dem Scheiterhaufen verbrennen.” Jetzt kommt es, dachte er. Sie wird mir sagen, was sie von mir erwartet. Wahrscheinlich wird sie weinen, so wie Macie damals. In Tränen aufgelöst hatte sie ihm eine Lüge aufgetischt, und erst sechs Monate später war sie wirklich schwanger gewesen, mit Molly. Er war darauf hereingefallen und verbrachte die folgenden sechs Jahre in einer Hölle auf Erden.
“Interessiert dich das nicht?” Wie konnte er nur so gleichgültig reagieren? Anscheinend hielt Gordon es für unmöglich, dass sie ein Kind zusammen gezeugt
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