Wenn das Dunkle erwacht (German Edition)
zukommen würde. Sie wusste bloß, dass da etwas war …
Es werden Feinde kommen, die mich dir wegnehmen.
Dies waren die Worte, die sie im Geist hörte, als sie die geheimnisvolle Waffe zum ersten Mal in die Hand nahm, gespenstisch und uralt und sanft, ganz anders als die „Stimmen“ oder „Visionen“, die sie sonst manchmal wahrnahm. Aber ihr seltsames Talent, bestimmte Gegenstände „lesen“ zu können, schien meistens nur ein Glückstreffer zu sein. Nur bei der Arbeit war es manchmal nützlich. Ein jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealtes Objekt, das Saige seine Geheimnisse verriet, wenn sie zum ersten Mal ihre Finger darauflegte.
Im Alltag waren es eher Nebensächlichkeiten, die sie erfuhr. Zum Beispiel ergriff sie in einem Restaurant die Ketchupflasche und war plötzlich eingeweiht in die geheimsten Gedanken der letzten Person, die sie in der Hand gehalten hatte. Hab ich das Bügeleisen ausgeschaltet? Werden mir diese Kalorien auf die Hüften schlagen? Soll ich zum Nachtisch Eis bestellen oder Apfelkuchen? Nicht gerade welterschütternde Enthüllungen, und sie konnte solche banalen Dinge ganz gut gleich wieder vergessen, zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Nur wenn sie einen Gegenstand aus der Vergangenheit berührte, lauschte sie aufmerksam – konzentrierte sich und wollte mehr wissen.
So war es auch, als sie zum ersten Mal so ein kunstvoll verziertes Kreuz gefunden hatte – Dark Marker wurden sie genannt, wie Saige inzwischen herausgefunden hatte. Das war letztes Jahr in Italien gewesen, und das Kreuz hatte ihr verraten, dass es sich um eine uralte Waffe handelte, dazu da, ihre Feinde zu vernichten und sie zu beschützen. Saige war voller Ehrfurcht vor seiner Wärme auf ihrer Haut, vor der Schönheit seiner aufwendigen und komplexen Gestaltung, und sie schwor sich, mithilfe der Karten, die in Wachstuch eingeschlagen daneben gelegen hatten, nach weiteren zu suchen. Da sie befürchtete, ihre Entdeckung des Dark Markers könnte ein böses Omen sein, überließ sie ihn bei einem Besuch zu Hause in South Carolina ihrer Mutter, damit Elaina Buchanan unter dem Schutz des Kreuzes stand. Nun war ihre Mutter gestorben, und Saige konnte nur hoffen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, den Dark Marker ihrem ältesten Bruder Ian zu überlassen. Es war der letzte Wille von Elaina gewesen, den sie nicht ignorieren konnte. Ian hasste jedes Geschwätz über die Merricks, und Saige hoffte inständig, dass dieser erste Dark Marker nicht verloren war … oder einfach weggeworfen. Denn es gab keinen Zweifel, dass sie die Kreuze brauchen würden. Und auch andere waren hinter diesen mächtigen und mysteriösen Waffen her, was ebenfalls für ihre große Bedeutung sprach.
Als sie die furchterregende Warnung des zweiten Dark Marker vernahm, wurde Saige sofort klar, dass sie alles tun musste, um ihn zu beschützen. Nachdem der Rest des internationalen Forscherteams schon letzte Woche in die verschiedenen Heimatländer zurückgekehrt war, waren sie und Jamison, ein Archäologe aus London, als Letzte zurückgeblieben, um ihre private Suche fortzusetzen. In den letzten anderthalb Jahren hatte Saige Jamison sehr gut kennengelernt; er war einer der wenigen aus dem Kollegenkreis, den sie als echten Freund betrachtete. Jung, lernbegierig und fleißig, war der sommersprossige Brite zwar nicht gerade ein großer Krieger, aber was ihm an körperlicher Kraft fehlte, machte er mit seinem Hirnschmalz mehr als wett. Saige vertraute ihm bedingungslos – deshalb hatte sie ihm ihren kostbaren Fund übergeben. Am Dienstagnachmittag wollte sie sich mit ihm in Denver treffen. Dort wollten sie ihren mittleren Bruder Riley aufspüren und ihm das Kreuz übergeben, ob er wollte oder nicht, denn er konnte es sicher besser beschützen als sie.
Manchmal stellte sie sich vor, Riley, ein Bezirkssheriff in den Rocky Mountains, würde sie bei sich aufnehmen, damit sie diesen Albtraum gemeinsam hinter sich bringen könnten, aber da hatte Saige keinerlei Illusionen. Sie wusste, dass ihre Brüder sie auf ihre Art liebten, aber die Obsession von ihr und ihrer Mutter mit den Merricks hatte einen tiefen Graben zwischen ihnen aufgerissen, der immer breiter geworden war, je älter sie wurden. Mit Ian hatte sie schon seit Jahren nicht mehr geredet, und auch wenn sie Riley gelegentlich sah, hatten sie doch keine besonders gute Beziehung. Nach Elainas Beerdigung vor sechs Monaten hatten sie nicht mehr miteinander telefoniert, aber die Wunden ihres
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