Wenn das Glück dich erwählt
schwächer. Evangeline war dankbar für eine weitere Nacht in der warmen, sicheren Postkutschenstation, weil ihr bewusst war, wie anstrengend und gefährlich die Reise am nächsten Tag sein würde.
Nach dem Essen half Evangeline Mrs. McCaffrey beim Geschirrspülen, während Jacob und Mr. Wainwright wieder hinausgingen, um zu rauchen und die Wetterlage einzuschätzen. Abigail, die nach dem guten Essen und den aufregenden Gesprächen müde war, schlief in einem Sessel am Kamin.
»Fühlen Sie sich nie einsam hier draußen?«, fragte Evangeline, während sie einen Teller trocknete.
Mrs. McCaffrey lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe meinen Jacob und den Herrgott, wenn ich Gesellschaft brauche, und es ist immer sehr viel los hier, wenn die Kutschen kommen. Ich sehe ständig neue Leute, und sie alle haben ihre eigenen Geschichten zu erzählen.«
Evangeline wollte nach Mrs. McCaffreys Söhnen fragen, aber die Frage erschien ihr zu persönlich. Die Leute im Westen waren ziemlich wortkarg, fand sie, und schienen es vorzuziehen, ihre Geheimnisse für sich zu bewahren. »Es jagt mir ein bisschen Angst ein«, gestand sie. »Die Vorstellung, so allein zu sein, meine ich.«
June-bug schenkte ihr ein weiteres Lächeln. »Allein sein muss nicht schlimm sein, wissen Sie. Ein Mensch kann lernen, sich selbst besser zu verstehen. Manche Leute finden in ihrem gesamten Leben nichts über ihre eigenen Gedanken und Gefühle heraus, aber hier draußen braucht man nichts anderes zu tun, als aufzupassen.«
»Aufzupassen«, wiederholte Evangeline zerstreut. Hinter den dicken Wänden der Station war das erste nächtliche Heulen der Wölfe zu vernehmen. Jacob und Scully, die wieder an einem der drei Tische saßen, waren in eine Partie Schach vertieft und schauten bei dem schaurigen Geräusch nicht einmal auf.
June-bug berührte plötzlich ihren Arm. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Mrs. Keating. Sie werden sicher sein bei Scully, Sie und Ihre Kleine. Ich habe noch keinen Bären, keinen Wolf oder Yankee gesehen, mit dem er nicht fertig geworden wäre.«
Evangeline begann sich besser zu fühlen - bis ihr langsam dämmerte, was Mrs. McCaffrey ihr da gerade mitgeteilt hatte. »Er hat auf der Seite der Konföderierten gekämpft?«
June-bug strahlte vor Stolz. »Das hat er allerdings«, erklärte sie. »Scully war Kurier für General Robert Lee persönlich.«
Die Schatten innerhalb des Hauses schienen sich in jenem Augenblick noch zu vertiefen, obwohl Evangeline sich ziemlich sicher war, dass es nur eine Sinnestäuschung war. Sie betrachtete Mr. Wainwrights Profil, als er die Hand ausstreckte, um eine Petroleumlampe näher an das Brett heranzuziehen, den gläsernen Schirm entfernte und ein brennendes Streichholz an den Docht hielt. Als er Feuer fing, setzte er den Glasschirm wieder auf, und er und Jacob fuhren fort mit ihrer Schachpartie.
Evangeline räusperte sich. »Da ich aus Pennsylvania komme, bin ich ... politisch gesehen ...«
»Das macht nichts«, fiel June-bug ihr ins Wort und drückte ihre Hand. »Sie können nichts dafür, dass Sie ein Yankee sind. Scully weiß das, und er wird es ihnen ganz bestimmt nicht vorhalten.« Sie runzelte die Stirn. »Was Big John Keating angeht, so habe ich keine Ahnung, wie er in dieser Frage denkt. Wahrscheinlich hält er es mit keiner Seite.« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, als teilte sie Evangeline ein wohlbehütetes Geheimnis mit. »Er ist in Texas aufgewachsen. Seiner Meinung nach macht ihn das weder zu einem Yankee noch zu einem Konföderierten. Er ist Texaner, sagt er.«
Erst später, als sie im Bett lag mit Abigail, die bereits den Schlaf der Unschuldigen schlief, fielen Evangeline Mrs. McCaffreys Bemerkungen wieder ein. Sie hatte den ganzen Abend über Scully Wainwright nachgedacht und sich gefragt, ob er die Nordstaatler hassen mochte für all das, was der Süden während des langen, grimmigen Bruderkriegs erlitten hatte. Sie fragte sich, wo und wie er aufgewachsen sein mochte und ob es in seinem Leben jemals eine Frau gegeben hatte, die ihm wichtig war.
Dass sie eigentlich über Big John Keating hätte nachdenken müssen, der in wenigen Monaten ihr Ehemann sein würde, in guten wie in schlechten Zeiten, in Reichtum und in Armut, bis dass der Tod sie scheide, war selbstverständlich. Und dennoch fand sie Scully Wainwright, den höflichen, stillen, rätselhaften Mann, der hergekommen war, um sie heimzuholen, erheblich interessanter.
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