Wenn das Schlachten vorbei ist
allgemeinere Richtung. Die bauchigen, in einem Zug gesprayten Buchstaben, die sich über Motorhaube und Windschutzscheibe winden, verkünden: Schweinemörderin . Sonst nichts. Attribut und Anklage in einem einzigen Kompositum, das, wie sie zugeben muss, in ihrem Fall zutrifft.
Lange Sekunden steht sie da und spürt den Stich. Sie ist ja wirklich eine Mörderin: Sie mordet Schweine, Ratten, Fenchel und Flockenblumen, sie mordet die auf die Inseln eingeführten Truthühner, die auch noch drankommen werden, sie mordet im Dienst einer höheren Sache, für Wiederherstellung, Wiedergutmachung, Erlösung, aber sie mordet. Traurigkeit mitsamt ihren fauligen Rändern erfüllt sie – und Müdigkeit, auch Müdigkeit, eine Erschöpfung kommt über sie, die sie schwächt wie die erste heftige Attacke einer Wintererkältung –, als sie sich vorbeugt und mit der Kante ihres Handys die dunkelrote Farbe vom Glas kratzt.
Das Konzert ist im Lobero, dem restaurierten Theater in der Stadtmitte, das im verlangsamten Rhythmus des Lebens vor einem Dreivierteljahrhundert vor sich hin tickt und ächzt, als die Welt größer war und weniger Menschen auf ihr lebten. Alma steht mit ihrer Mutter auf den spanischen Fliesen vor den hohen Türen und denkt unwillkürlich darüber nach: über eine Welt, in der die Bevölkerungszahl ein Drittel der heutigen betrug. Sie stellt sich vor, all die anderen wären nicht da, fortgeweht wie Pollen, so dass die Flüsse, die Wälder, die Tierwelt sich erholen könnten. 1924 steht auf dem Messingschild am Portal. Sie versucht es sich auszumalen. Nicht die Flapper Girls, die Gangster und so weiter, sondern vielmehr die Verhältnisse: Nach dem Krieg und der Grippewelle, die dieser ausgebrütet und in die Welt gespien hatte, war man auf das Nötigste reduziert, geographische Gegebenheiten und die Nahrungsproduktion begrenzten den Bevölkerungszuwachs, Dschungel waren groß und undurchdringlich und Berggipfel unbezwungen, in den Meeren wimmelte es von Fischen, Säugetieren und Wirbellosen – so war es, als dies Theater errichtet wurde, an derselben Stelle wie das alte, das aus dem Jahr 1873 gestammt hatte, als die Welt sogar noch größer gewesen war.
»Willst du noch ein Glas Wein?« fragt ihre Mutter. Sie trägt zur Feier des Tages einen hellblauen Hosenanzug, ihre Augen sind geschminkt, und sie hat sich ein Paar große, hängende Ohrringe aus Almas Schmuckschatulle im Schlafzimmer ausgeliehen. Sie hat Schuhe mit Absätzen angezogen, sich das Haar toupiert und es mit Spray in Form gezwungen. Sie sieht gut aus. Und sie strahlt vor Freude darüber, dass sie gemeinsam ausgehen. Und das ist ebenfalls gut.
»Nein, ich glaube nicht«, sagt Alma und schüttelt nachdrücklich den Kopf. Sie haben zu Hause ein Glas getrunken, um in Stimmung zu kommen, und ein zweites – oder vielmehr einen Plastikbecher, denn darin wird an dem Stand vor dem Theater der Wein ausgeschenkt –, als sie hier angekommen sind. Alma ist gern pünktlich, ja eigentlich kommt sie gern ein bisschen zu früh, und zwar auf eine Art, die, wie sie selbst unumwunden zugeben würde, einen Hauch neurotisch ist – am Flughafen ist sie unruhig, wenn sie nicht mit ihrer Zeitung am Gate sitzt, bevor ihr Flug überhaupt auf der Anzeige erscheint –, und so sind sie und ihre Mutter die ersten in der Schlange. Das soll aber nicht heißen, dass sie sich nicht entspannen kann, dass sie nicht das leichte Gefühl der Schwerelosigkeit nach dem zweiten Glas Wein genießen kann, während die Kühle des Abends sie umfächelt. Sie unterhält sich sehr angeregt mit den Leuten hinter ihr, zwei Collegestudentinnen, die als glühende Micah-Stroud-Fans mit dem Zug aus L. A. gekommen sind, aber sie denkt auch an das Konzert und den Druck, den sie nach fünf, sechs Stücken auf der Blase haben wird. Also fürs erste keinen Wein mehr. »Vielleicht später«, sagt sie, während ihre Mutter mit einem verkniffenen kleinen Lächeln zu dem Stand geht, um sich noch ein Glas zu holen, nicht ohne zuvor (unnötigerweise, denn die Plätze sind numeriert) zu flüstern: »Halt mir einen Platz frei.«
Um Viertel vor acht gehen die Türen auf, und sie nimmt ihre Mutter am Arm und führt sie durch das mit Teppichboden ausgelegte Foyer. Es gibt noch ein kleines Problem mit dem Wein – ein Ordner teilt ihnen mit, dass man keine Getränke mit hineinnehmen darf, worauf ihre Mutter den Plastikbecher in einem Zug austrinkt und ihm in die Hand drückt –, und dann sind sie im Zuschauerraum.
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