Wenn das Schlachten vorbei ist
Ihre Mutter ist begeistert, wie elegant das Theater ist, als hätte sie eine kahle Ravehalle oder eine heruntergekommene Kaschemme erwartet. Sie bleiben für einen Augenblick dort hinten stehen und betrachten stumm die noch dunkle Bühne und die ansteigenden Reihen der mit weinrotem Plüsch bezogenen Sitze, und dann entschuldigt sich ihre Mutter und geht in Richtung Damentoilette. Alma findet ihre Plätze – gute Plätze, fünfzehnte Reihe Mitte – und vertieft sich in das Programmheft.
Sie spürt, wie sie sich entspannt, wie sie den Augenblick genießt. Die Wandlampen leuchten sanft, die Stimmen murmeln erwartungsvoll. Sie hat Micah Stroud mittlerweile sechsmal gesehen, zweimal in San Francisco, dreimal in L. A. und einmal in Phoenix. Für die Studentinnen, die hinter ihr in der Schlange gestanden haben, ist das heutige Konzert das erste, und sie beneidet die beiden darum, um dieses rauschhafte Erlebnis, wenn die Saalbeleuchtung langsam erstirbt und die Bandmitglieder sich in den Schatten bewegen und Gestalt annehmen und der Scheinwerfer das leere Mikrofon beleuchtet und der Drummer mit den Besen über das Hi-Hat wischt und mit einemmal Micah da ist und seine Stimme über dem Anker seiner Gitarrenakkorde aufsteigt und das Gebäude und die Menschen darin restlos durchdringt. So war es jedesmal. Jetzt beugt sie sich gespannt vor und beobachtet die Bühne. Wippt mit dem Fuß. Will sich nicht sorgen, wo ihre Mutter bleibt.
Bald haben sich die leeren Plätze ringsum gefüllt, das Licht wird schwächer, und sie will sich gerade nach ihrer Mutter umsehen, als die sich, in der einen Hand die Tasche, in der anderen ein zerknittertes Programmheft, durch die Reihe schiebt. »Vor dem Klo war eine ziemlich lange Schlange«, sagt sie als Erklärung und setzt sich. Das Publikum kommt zur Ruhe. Ein paar Nachzügler zwängen sich an Handtaschen und beiseite gedrehten Knien vorbei. Der Mann vor Alma und ihrer Mutter stößt ein nervöses, bellendes Husten aus. Und dann brandet Applaus auf – Affen, die ihre glatten Handflächen und schwieligen Finger zusammenschlagen, nicht anders als vor drei Millionen Jahren in der afrikanischen Savanne, und sie ist eine von ihnen und klatscht ebenfalls Beifall –, und dann geht der Ansager mit raschen Schritten zur Bühnenmitte, nimmt das Mikrofon und sieht nachdenklich ins Publikum, bis das Klatschen erstirbt.
Er ist ein kleiner dicklicher Mann in den Vierzigern mit glattem Haar, das ihm in die Augen hängt und die Ohren verdeckt, und er ergreift die Gelegenheit, um ein paar Worte über diese Konzertserie zu sagen, durch die alle zwei Monate national – und international – bekannte Künstler wie Micah Stroud (abermals Applaus) in das historische Theater unserer kleinen Stadt Santa Barbara kommen, und dass man sich eine Broschüre mitnehmen und die Konzerte abonnieren kann, womit man nicht nur die Bands unterstützt, die man mag, sondern auch noch ein richtiges Geschäft macht, denn auf diese Weise kann man bis zu hundertzwanzig Dollar pro Saison sparen. Er weiß, dass er sich kurz fassen muss, aber dennoch gibt es Buhrufe aus den vorderen Reihen, und irgendwo hinter Alma ruft einer Micah, Micah, Micah , bis die Menge den Ruf aufnimmt und der Mann am Mikrofon verstummt. Ein paar Sekunden steht er einfach da und sieht spitzbübisch in den Saal, dann breitet er die Arme aus, bis das Publikum sich beruhigt.
»Und jetzt«, ruft er mit ganz veränderter Stimme – sie ist volltönend und sonor, die Stimme eines Anreißers, eines Conférenciers –, »der Augenblick, auf den Sie gewartet haben … Meine Damen und Herren, liebe Zwerge und kleine Fische, begrüßen Sie nun das Wunder aus den Sümpfen von Louisiana, den Löwen der Bayous, den Mann mit der größten Stimme und dem größten Herzen im ganzen Musikgeschäft: MICAH … STROUD!«
Obwohl sie nicht zu den Menschen gehört, die stets auf der Hut sind, die stets genau wissen, was um sie herum geschieht, und mit allen fünf Sinnen wahrnehmen, was die Welt ihnen bringt, rührt sie sich nicht, sieht sie sich nicht um, tut sie während der ersten drei Stücke nichts, als im Rhythmus zu nicken und mit dem Fuß zu wippen. Er steht allein auf der Bühne, mit der akustischen Gitarre, die Band wartet in den Kulissen, denn im Augenblick gibt es, in Umkehrung der üblichen Reihenfolge, nur Micahs Stimme und seine Gitarre. Ihre Mutter sitzt neben ihr, doch Alma ist sich dessen gar nicht bewusst; die Songs, die für sie etwas so Persönliches sind,
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