Wenn das Schlachten vorbei ist
von ihrem Platz in der ersten Reihe – wie hat sie sie nur übersehen können? –, gekrönt von einer pilzförmigen Wolke aus lockigem Haar. Und das ist noch nicht alles. Denn Dave LaJoy ist ebenfalls anwesend, er sitzt auf dem Platz neben Anise und klatscht Beifall, in den das Publikum sogleich einfällt. Wilson Gutierrez, sein Sitznachbar auf der anderen Seite, pfeift und stampft mit den Füßen, während Alicia ihr blasses, ausdrucksloses Gesicht zum Licht hebt, das von der Bühne strömt, und die Frau neben ihr mit dem ergrauenden Lockenschopf voller … Mutterstolz strahlt. Anises Mutter. Anise Reeds Mutter. Und bevor Alma das alles auch nur ansatzweise verarbeiten kann, steigt die unglaublich talentierte Singer-Songwriterin auf die Bühne, ihre nackten Füße beben, die Zehennägel schimmern, und aus den Kulissen eilt ein Helfer herbei und reicht ihr auf ausgestreckten Händen ihre Gitarre, als wäre diese eine Opfergabe.
Beinahe sechzig Jahre zuvor, als die Plätze des Lobero sich nach den mageren Kriegsjahren langsam wieder zu füllen begannen, brachte Almas Großmutter im St. John’s Hospital in Santa Monica ihr Kind zur Welt, ein gesundes Mädchen von sechseinhalb Pfund, das durch die Strapazen, denen seine Mutter auf Anacapa ausgesetzt gewesen war, keinen Schaden genommen zu haben schien. Beverly lebte bei ihrer Mutter, denn am Ende dieses ersten katastrophalen Monats, in dem sie Till in jeder Minute eines jeden Tages so sehr vermisst hatte, als wäre er wieder in den Krieg gezogen, konnte sie die Miete für die gemeinsame Wohnung nicht mehr bezahlen. So gab es nun zwei Witwen in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Ihr Vater war seit zehn Jahren tot, ihre Mutter war den ganzen Tag auf den Beinen und stand in einem Lebensmittelgeschäft am Lincoln Boulevard an der Kasse, obwohl sie Krampfadern hatte und ihre Knöchel anschwollen, bis sie aussahen wie eine aus der Form geratene Schichttorte.
Als Beverly im Krankenhaus erwachte und die Schwester ihr das Baby brachte, glaubte sie zunächst an eine Verwechslung, so überzeugt war sie, ihr Kind müsse ein Junge sein: Tills Sohn, das Abbild seines Vaters, vom Himmel herabgekommen, um ihn zu vertreten, Till junior, der zu einem Mann mit zwei gesunden Armen heranwachsen würde. Sie hatte sich keinen Namen für ein Mädchen ausgedacht, doch als ihre Mutter, noch in Uniform, direkt von der Arbeit ins Krankenhaus kam und das Kind überglücklich in den Armen hielt, schoss ihr ein Name durch den Kopf: Matilda, sie würde ihre Tochter Matilda nennen, kurz Tillie. Sie sagte ihn laut in diesem hallenden Raum, sprach ihn für ihre Mutter aus, während ihre Zimmergenossin mit den beiden Zwillingssöhnen ruhig lächelnd zusah. »Tillie – was hältst du von Tillie?«
Ihre Mutter starrte dem Baby ins Gesicht, als stünde dort eine Botschaft aus einem unerforschlichen Reich, und schnalzte mit der Zunge. »Willst du wirklich für den Rest deines Lebens damit leben?« sagte sie, ohne aufzusehen.
»Womit leben?«
»Wenn du es nicht weißt, kann ich’s dir nicht erklären. Aber denk darüber nach. Denk einfach nach.«
Während der erste Tag gedämpft dahinging, während sie das Baby fütterte und ihm die Windeln wechselte und sie sich am nächsten Tag von einem Taxi nach Hause fahren ließ, wehrte sie sich störrisch gegen diesen Gedanken: Sie sah Till vor sich, wie er vor dem Krieg gewesen war, Till in Uniform, Till ohne Uniform, im Bett, wo er seinen Körper leidenschaftlich an ihren gepresst hatte. In den ersten beiden Wochen, ja bis zum Vorabend der Taufe, war das Baby nur das Baby , doch schließlich, als sie im Schaukelstuhl am Fenster des einzigen Hauses saß, das sie gekannt hatte, bis ihr Mann sie hinaus ins Leben geführt hatte, als ihre Tochter zufrieden den Sauger der soeben gewärmten Flasche im Mund hatte und ihre Mutter auf müden Füßen hereingeschlurft kam, um ihr eine Tasse Tee zu bringen, kam sie zur Besinnung: Sie hatte keinen Sohn, sondern eine Tochter, und Till war jetzt ein Geist. In diesem Augenblick bekam das Baby seinen Namen: Sie würde es Katherine nennen, nach der sanftmütigen Frau mit dem leidenden Gesicht und dem freundlichen schmalen Lächeln, die Tasse und Untertasse balancierte, als wäre sie im Begriff, beides mit einem Taschenspielertrick verschwinden zu lassen, und dabei keinen Augenblick den Blick von ihr wendete.
Männer kamen zu Besuch, Männer, die aus demselben Holz geschnitzt waren wie Warren, doch Beverly ermunterte sie
Weitere Kostenlose Bücher